Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

vor aller bewußten Zusammenfassung und sichtbaren Kundgebung im dunkeln
Schooße des Gefühls vorbereitet liegt, und ebenso ist oben gezeigt, daß der
Weg der wirklichen Ausbildung des Charakters, seine Erfahrungen und
Kämpfe, die ganze Geschichte eines Geistes in das Gefühl einfließt, das wir
in diesem Sinn als das Werk des Charakters bezeichnen durften. Allein es ist
ebenso wahr, daß das unendlich Eigene jenes Ineinander von Angeborenem
und durch Freiheit Erarbeiteten, das wir Charakter nennen, seine volle Be-
stimmtheit und Schärfe nur in der bewußten Begegnung mit Objecten zum
Ausdruck bringt, in dem doppelten Sinne, daß im Sichtbaren erst das
Innere wahrhaft erscheint, und daß es in der Reibung mit deutlich er-
kannten Objecten in der Form der Rede und Handlung sich erst dem Geiste
zu erkennen gibt. Das Individuelle wird daher in der Musik seinen Aus-
druck finden, aber nur wie ein Geahntes, das im Augenblick, wo man es
fassen will, wieder als zu unbestimmt in's Dunkel entschwindet. Dieß gilt
nun von aller Musik, nicht nur von der begleitenden; in dieser aber wird
es den Dichter bestimmen, nicht so scharf zu charakterisiren, als er es für
den rein poetischen Zweck könnte oder wollte; je mehr er es dennoch thut,
desto mehr wird sich die Kluft zwischen Text und Musik fühlbar machen,
das Eigenste dieses Charakters in Wort und That wird der Musiker nicht
ausdrücken können, vielmehr, was er ausdrückt, wird zwischen einem bloßen
Typus im Allgemeinen, einer Maske und einem Individuum schwanken.
Wir müssen übrigens in der volleren Ausprägung der Individualität eine
doppelte Seite unterscheiden: nach der einen ist sie wesentlich die tiefere,
wie ja überhaupt die Eigenheit der Individualität als höher berechtigt in
die Kunst eingetreten ist mit dem Aufgang derjenigen Weltanschauung, die
den Einzelnen um der Unendlichkeit des Bewußtseins willen, die in ihm sich
erschlossen, als eine Welt erkennt und anerkennt (§. 452); die bedeutendere
Tiefe ist aber wesentlich die bedeutendere Vielseitigkeit der innern Verschlingung
der Kräfte, der vieltönigere Reflex der Dinge im Innern: also wird ein
Hauptmittel des individualisirenden Styls die vollere Ausbildung der Har-
monie
sein. Nach der andern Seite ist die ausgesprochenere Individualität
die schärfere, sie trägt herbere Gegensätze, schroffere Uebergänge, unge-
wöhnlichere Reihen von Schwingungen in sich: hiefür hat die Musik das
Mittel der kühneren Dissonanzen und der gewagteren melodischen Tonfolgen
und rythmischen Bewegungen. Das entgegengesetzte Stylprinzip, das wir
als das der directen Idealisirung kennen, wird sich dagegen strenger an die
einfachen Grundgesetze des Rhythmischen, also Quantitativen, und an
die reine Schönheit der Melodie auf Grundlage der akustischen Consonanzen
halten; diese Momente entsprechen dem der Zeichnung in der Malerei, an
welches ebenda die mehr plastische Stylrichtung sich anschließt. Je tiefer
nun die Individualität, je gesicherter der Charakter, desto freier ist das

vor aller bewußten Zuſammenfaſſung und ſichtbaren Kundgebung im dunkeln
Schooße des Gefühls vorbereitet liegt, und ebenſo iſt oben gezeigt, daß der
Weg der wirklichen Ausbildung des Charakters, ſeine Erfahrungen und
Kämpfe, die ganze Geſchichte eines Geiſtes in das Gefühl einfließt, das wir
in dieſem Sinn als das Werk des Charakters bezeichnen durften. Allein es iſt
ebenſo wahr, daß das unendlich Eigene jenes Ineinander von Angeborenem
und durch Freiheit Erarbeiteten, das wir Charakter nennen, ſeine volle Be-
ſtimmtheit und Schärfe nur in der bewußten Begegnung mit Objecten zum
Ausdruck bringt, in dem doppelten Sinne, daß im Sichtbaren erſt das
Innere wahrhaft erſcheint, und daß es in der Reibung mit deutlich er-
kannten Objecten in der Form der Rede und Handlung ſich erſt dem Geiſte
zu erkennen gibt. Das Individuelle wird daher in der Muſik ſeinen Aus-
druck finden, aber nur wie ein Geahntes, das im Augenblick, wo man es
faſſen will, wieder als zu unbeſtimmt in’s Dunkel entſchwindet. Dieß gilt
nun von aller Muſik, nicht nur von der begleitenden; in dieſer aber wird
es den Dichter beſtimmen, nicht ſo ſcharf zu charakteriſiren, als er es für
den rein poetiſchen Zweck könnte oder wollte; je mehr er es dennoch thut,
deſto mehr wird ſich die Kluft zwiſchen Text und Muſik fühlbar machen,
das Eigenſte dieſes Charakters in Wort und That wird der Muſiker nicht
ausdrücken können, vielmehr, was er ausdrückt, wird zwiſchen einem bloßen
Typus im Allgemeinen, einer Maske und einem Individuum ſchwanken.
Wir müſſen übrigens in der volleren Ausprägung der Individualität eine
doppelte Seite unterſcheiden: nach der einen iſt ſie weſentlich die tiefere,
wie ja überhaupt die Eigenheit der Individualität als höher berechtigt in
die Kunſt eingetreten iſt mit dem Aufgang derjenigen Weltanſchauung, die
den Einzelnen um der Unendlichkeit des Bewußtſeins willen, die in ihm ſich
erſchloſſen, als eine Welt erkennt und anerkennt (§. 452); die bedeutendere
Tiefe iſt aber weſentlich die bedeutendere Vielſeitigkeit der innern Verſchlingung
der Kräfte, der vieltönigere Reflex der Dinge im Innern: alſo wird ein
Hauptmittel des individualiſirenden Styls die vollere Ausbildung der Har-
monie
ſein. Nach der andern Seite iſt die ausgeſprochenere Individualität
die ſchärfere, ſie trägt herbere Gegenſätze, ſchroffere Uebergänge, unge-
wöhnlichere Reihen von Schwingungen in ſich: hiefür hat die Muſik das
Mittel der kühneren Diſſonanzen und der gewagteren melodiſchen Tonfolgen
und rythmiſchen Bewegungen. Das entgegengeſetzte Stylprinzip, das wir
als das der directen Idealiſirung kennen, wird ſich dagegen ſtrenger an die
einfachen Grundgeſetze des Rhythmiſchen, alſo Quantitativen, und an
die reine Schönheit der Melodie auf Grundlage der akuſtiſchen Conſonanzen
halten; dieſe Momente entſprechen dem der Zeichnung in der Malerei, an
welches ebenda die mehr plaſtiſche Stylrichtung ſich anſchließt. Je tiefer
nun die Individualität, je geſicherter der Charakter, deſto freier iſt das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0070" n="832"/>
vor aller bewußten Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung und &#x017F;ichtbaren Kundgebung im dunkeln<lb/>
Schooße des Gefühls vorbereitet liegt, und eben&#x017F;o i&#x017F;t oben gezeigt, daß der<lb/>
Weg der wirklichen Ausbildung des Charakters, &#x017F;eine Erfahrungen und<lb/>
Kämpfe, die ganze Ge&#x017F;chichte eines Gei&#x017F;tes in das Gefühl einfließt, das wir<lb/>
in die&#x017F;em Sinn als das Werk des Charakters bezeichnen durften. Allein es i&#x017F;t<lb/>
eben&#x017F;o wahr, daß das unendlich Eigene jenes Ineinander von Angeborenem<lb/>
und durch Freiheit Erarbeiteten, das wir Charakter nennen, &#x017F;eine volle Be-<lb/>
&#x017F;timmtheit und Schärfe nur in der bewußten Begegnung mit Objecten zum<lb/>
Ausdruck bringt, in dem doppelten Sinne, daß im Sichtbaren er&#x017F;t das<lb/>
Innere wahrhaft er&#x017F;cheint, und daß es in der Reibung mit deutlich er-<lb/>
kannten Objecten in der Form der Rede und Handlung &#x017F;ich er&#x017F;t dem Gei&#x017F;te<lb/>
zu erkennen gibt. Das Individuelle wird daher in der Mu&#x017F;ik &#x017F;einen Aus-<lb/>
druck finden, aber nur wie ein Geahntes, das im Augenblick, wo man es<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en will, wieder als zu unbe&#x017F;timmt in&#x2019;s Dunkel ent&#x017F;chwindet. Dieß gilt<lb/>
nun von aller Mu&#x017F;ik, nicht nur von der begleitenden; in die&#x017F;er aber wird<lb/>
es den Dichter be&#x017F;timmen, nicht &#x017F;o &#x017F;charf zu charakteri&#x017F;iren, als er es für<lb/>
den rein poeti&#x017F;chen Zweck könnte oder wollte; je mehr er es dennoch thut,<lb/>
de&#x017F;to mehr wird &#x017F;ich die Kluft zwi&#x017F;chen Text und Mu&#x017F;ik fühlbar machen,<lb/>
das Eigen&#x017F;te <hi rendition="#g">die&#x017F;es</hi> Charakters in Wort und That wird der Mu&#x017F;iker nicht<lb/>
ausdrücken können, vielmehr, was er ausdrückt, wird zwi&#x017F;chen einem bloßen<lb/>
Typus im Allgemeinen, einer Maske und einem Individuum &#x017F;chwanken.<lb/>
Wir mü&#x017F;&#x017F;en übrigens in der volleren Ausprägung der Individualität eine<lb/>
doppelte Seite unter&#x017F;cheiden: nach der einen i&#x017F;t &#x017F;ie we&#x017F;entlich die <hi rendition="#g">tiefere</hi>,<lb/>
wie ja überhaupt die Eigenheit der Individualität als höher berechtigt in<lb/>
die Kun&#x017F;t eingetreten i&#x017F;t mit dem Aufgang derjenigen Weltan&#x017F;chauung, die<lb/>
den Einzelnen um der Unendlichkeit des Bewußt&#x017F;eins willen, die in ihm &#x017F;ich<lb/>
er&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, als eine Welt erkennt und anerkennt (§. 452); die bedeutendere<lb/>
Tiefe i&#x017F;t aber we&#x017F;entlich die bedeutendere Viel&#x017F;eitigkeit der innern Ver&#x017F;chlingung<lb/>
der Kräfte, der vieltönigere Reflex der Dinge im Innern: al&#x017F;o wird ein<lb/>
Hauptmittel des individuali&#x017F;irenden Styls die vollere Ausbildung der <hi rendition="#g">Har-<lb/>
monie</hi> &#x017F;ein. Nach der andern Seite i&#x017F;t die ausge&#x017F;prochenere Individualität<lb/>
die <hi rendition="#g">&#x017F;chärfere</hi>, &#x017F;ie trägt herbere Gegen&#x017F;ätze, &#x017F;chroffere Uebergänge, unge-<lb/>
wöhnlichere Reihen von Schwingungen in &#x017F;ich: hiefür hat die Mu&#x017F;ik das<lb/>
Mittel der kühneren Di&#x017F;&#x017F;onanzen und der gewagteren melodi&#x017F;chen Tonfolgen<lb/>
und rythmi&#x017F;chen Bewegungen. Das entgegenge&#x017F;etzte Stylprinzip, das wir<lb/>
als das der directen Ideali&#x017F;irung kennen, wird &#x017F;ich dagegen &#x017F;trenger an die<lb/>
einfachen Grundge&#x017F;etze des <hi rendition="#g">Rhythmi&#x017F;chen</hi>, al&#x017F;o Quantitativen, und an<lb/>
die reine Schönheit der Melodie auf Grundlage der aku&#x017F;ti&#x017F;chen Con&#x017F;onanzen<lb/>
halten; die&#x017F;e Momente ent&#x017F;prechen dem der Zeichnung in der Malerei, an<lb/>
welches ebenda die mehr pla&#x017F;ti&#x017F;che Stylrichtung &#x017F;ich an&#x017F;chließt. Je tiefer<lb/>
nun die Individualität, je ge&#x017F;icherter der Charakter, de&#x017F;to freier i&#x017F;t das<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[832/0070] vor aller bewußten Zuſammenfaſſung und ſichtbaren Kundgebung im dunkeln Schooße des Gefühls vorbereitet liegt, und ebenſo iſt oben gezeigt, daß der Weg der wirklichen Ausbildung des Charakters, ſeine Erfahrungen und Kämpfe, die ganze Geſchichte eines Geiſtes in das Gefühl einfließt, das wir in dieſem Sinn als das Werk des Charakters bezeichnen durften. Allein es iſt ebenſo wahr, daß das unendlich Eigene jenes Ineinander von Angeborenem und durch Freiheit Erarbeiteten, das wir Charakter nennen, ſeine volle Be- ſtimmtheit und Schärfe nur in der bewußten Begegnung mit Objecten zum Ausdruck bringt, in dem doppelten Sinne, daß im Sichtbaren erſt das Innere wahrhaft erſcheint, und daß es in der Reibung mit deutlich er- kannten Objecten in der Form der Rede und Handlung ſich erſt dem Geiſte zu erkennen gibt. Das Individuelle wird daher in der Muſik ſeinen Aus- druck finden, aber nur wie ein Geahntes, das im Augenblick, wo man es faſſen will, wieder als zu unbeſtimmt in’s Dunkel entſchwindet. Dieß gilt nun von aller Muſik, nicht nur von der begleitenden; in dieſer aber wird es den Dichter beſtimmen, nicht ſo ſcharf zu charakteriſiren, als er es für den rein poetiſchen Zweck könnte oder wollte; je mehr er es dennoch thut, deſto mehr wird ſich die Kluft zwiſchen Text und Muſik fühlbar machen, das Eigenſte dieſes Charakters in Wort und That wird der Muſiker nicht ausdrücken können, vielmehr, was er ausdrückt, wird zwiſchen einem bloßen Typus im Allgemeinen, einer Maske und einem Individuum ſchwanken. Wir müſſen übrigens in der volleren Ausprägung der Individualität eine doppelte Seite unterſcheiden: nach der einen iſt ſie weſentlich die tiefere, wie ja überhaupt die Eigenheit der Individualität als höher berechtigt in die Kunſt eingetreten iſt mit dem Aufgang derjenigen Weltanſchauung, die den Einzelnen um der Unendlichkeit des Bewußtſeins willen, die in ihm ſich erſchloſſen, als eine Welt erkennt und anerkennt (§. 452); die bedeutendere Tiefe iſt aber weſentlich die bedeutendere Vielſeitigkeit der innern Verſchlingung der Kräfte, der vieltönigere Reflex der Dinge im Innern: alſo wird ein Hauptmittel des individualiſirenden Styls die vollere Ausbildung der Har- monie ſein. Nach der andern Seite iſt die ausgeſprochenere Individualität die ſchärfere, ſie trägt herbere Gegenſätze, ſchroffere Uebergänge, unge- wöhnlichere Reihen von Schwingungen in ſich: hiefür hat die Muſik das Mittel der kühneren Diſſonanzen und der gewagteren melodiſchen Tonfolgen und rythmiſchen Bewegungen. Das entgegengeſetzte Stylprinzip, das wir als das der directen Idealiſirung kennen, wird ſich dagegen ſtrenger an die einfachen Grundgeſetze des Rhythmiſchen, alſo Quantitativen, und an die reine Schönheit der Melodie auf Grundlage der akuſtiſchen Conſonanzen halten; dieſe Momente entſprechen dem der Zeichnung in der Malerei, an welches ebenda die mehr plaſtiſche Stylrichtung ſich anſchließt. Je tiefer nun die Individualität, je geſicherter der Charakter, deſto freier iſt das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/70
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 832. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/70>, abgerufen am 28.03.2024.