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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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2.Halbtöne, theilen. Innerhalb dieser Reihe, durch deren klare und gleichartige
Gliederung das Reich der Töne bereits zu einem geordneten Ganzen, zum
Tonsystem, erhoben ist, treten aber auf Grund des natürlichen mathematischen
Verhältnisses der Töne zu einander auch noch weitere, jene Gliederung erst
wahrhaft vollendende Intervallverhältnisse hervor, Verhältnisse theils der Ein-
heit (Einstimmigkeit), theils der mehr oder weniger spezifischen Zusammen-
gehörigkeit entfernterer Töne unter sich, das Verhältniß der Octave einer-,
das der Quint, Quart und großen Terz andererseits, während den andern
größern Intervallen, Sext, Septime, kleiner Terz eine gleich spezifisch aus-
geprägte Beziehung ihrer Töne zu einander nicht zukommt.

1. Vom untersten bis zum obersten wahrnehmbaren Tone ließen sich,
wenn man die Höhenunterschiede zwischen den Einzeltönen unendlich klein
nähme, unzählige Zwischenstufen denken; es ist aber klar, daß die Unter-
schiede der einander nächstliegenden Töne desto unbemerkbarer und unerfaß-
barer werden, je weniger sie von einander abstehen, und daß daher nicht
Kleinheit, sondern eher Größe der Intervalle musikalisches Gesetz ist. Zu
kleine Intervalle können weder allgemein deutlich vernommen, noch vom
ausübenden Musiker leicht und sicher hervorgebracht werden; ihr Gebrauch
würde allen Eindruck des Hellen, Durchsichtigen, Freien unmöglich machen;
wenn die Tonreihe in eine zu große Zahl kleiner Tonstufen sich zersplittert,
so sind die Nachbartöne einander zu nahe, die distantern durch zu viele
Zwischenstufen von einander getrennt, sowohl der klare Unterschied als die
nähere Beziehung der Töne zu einander ist aufgehoben. Manche Völker
des Alterthums, auch die Griechen, haben allerdings einen Werth auf kleine
Intervalle gelegt und daher neben dem Fortgang durch Ganz- und Halb-
töne auch den durch Viertelstöne für schön und effectreich gehalten, die so-
genannte enharmonische Tonleiter; aber eine solche Tonfolge kann doch nur
eine sehr bedingte Anwendung finden, sie würde bei längerem Gebrauch
wegen der Anstrengung des Unterscheidens der Intervalle, sowie wegen des
Umstandes, daß die Tonreihe in so ganz kleinen Absätzen vorwärts rückte
oder vielmehr schliche, auf Gehör und Phantasie theils unnatürlich spannend
und überreizend wirken, theils den Eindruck einer gedehnten, unklar gedrückten
und gepreßten Bewegung hervorbringen. Eine solche einerseits nervös auf-
regende, andererseits keinen freien und klaren Aufschwung gestattende Musik
kann natürlich nur da Platz finden, wo das Bewußtsein noch nicht zu
wahrer Geistigkeit und Freiheit gekommen, sondern noch mit einer sinnlichen
Bestimmtheit des Fühlens behaftet ist, die auf der einen Seite heftige Er-
regung will, auf der andern einem trüben und dumpfen Empfinden sich
nicht zu entwinden im Stande ist. Bemerkenswerth ist es in dieser Be-
ziehung, daß dieselben Völker, welche enharmonische Tonfolgen im Gebrauche

2.Halbtöne, theilen. Innerhalb dieſer Reihe, durch deren klare und gleichartige
Gliederung das Reich der Töne bereits zu einem geordneten Ganzen, zum
Tonſyſtem, erhoben iſt, treten aber auf Grund des natürlichen mathematiſchen
Verhältniſſes der Töne zu einander auch noch weitere, jene Gliederung erſt
wahrhaft vollendende Intervallverhältniſſe hervor, Verhältniſſe theils der Ein-
heit (Einſtimmigkeit), theils der mehr oder weniger ſpezifiſchen Zuſammen-
gehörigkeit entfernterer Töne unter ſich, das Verhältniß der Octave einer-,
das der Quint, Quart und großen Terz andererſeits, während den andern
größern Intervallen, Sext, Septime, kleiner Terz eine gleich ſpezifiſch aus-
geprägte Beziehung ihrer Töne zu einander nicht zukommt.

1. Vom unterſten bis zum oberſten wahrnehmbaren Tone ließen ſich,
wenn man die Höhenunterſchiede zwiſchen den Einzeltönen unendlich klein
nähme, unzählige Zwiſchenſtufen denken; es iſt aber klar, daß die Unter-
ſchiede der einander nächſtliegenden Töne deſto unbemerkbarer und unerfaß-
barer werden, je weniger ſie von einander abſtehen, und daß daher nicht
Kleinheit, ſondern eher Größe der Intervalle muſikaliſches Geſetz iſt. Zu
kleine Intervalle können weder allgemein deutlich vernommen, noch vom
ausübenden Muſiker leicht und ſicher hervorgebracht werden; ihr Gebrauch
würde allen Eindruck des Hellen, Durchſichtigen, Freien unmöglich machen;
wenn die Tonreihe in eine zu große Zahl kleiner Tonſtufen ſich zerſplittert,
ſo ſind die Nachbartöne einander zu nahe, die diſtantern durch zu viele
Zwiſchenſtufen von einander getrennt, ſowohl der klare Unterſchied als die
nähere Beziehung der Töne zu einander iſt aufgehoben. Manche Völker
des Alterthums, auch die Griechen, haben allerdings einen Werth auf kleine
Intervalle gelegt und daher neben dem Fortgang durch Ganz- und Halb-
töne auch den durch Viertelstöne für ſchön und effectreich gehalten, die ſo-
genannte enharmoniſche Tonleiter; aber eine ſolche Tonfolge kann doch nur
eine ſehr bedingte Anwendung finden, ſie würde bei längerem Gebrauch
wegen der Anſtrengung des Unterſcheidens der Intervalle, ſowie wegen des
Umſtandes, daß die Tonreihe in ſo ganz kleinen Abſätzen vorwärts rückte
oder vielmehr ſchliche, auf Gehör und Phantaſie theils unnatürlich ſpannend
und überreizend wirken, theils den Eindruck einer gedehnten, unklar gedrückten
und gepreßten Bewegung hervorbringen. Eine ſolche einerſeits nervös auf-
regende, andererſeits keinen freien und klaren Aufſchwung geſtattende Muſik
kann natürlich nur da Platz finden, wo das Bewußtſein noch nicht zu
wahrer Geiſtigkeit und Freiheit gekommen, ſondern noch mit einer ſinnlichen
Beſtimmtheit des Fühlens behaftet iſt, die auf der einen Seite heftige Er-
regung will, auf der andern einem trüben und dumpfen Empfinden ſich
nicht zu entwinden im Stande iſt. Bemerkenswerth iſt es in dieſer Be-
ziehung, daß dieſelben Völker, welche enharmoniſche Tonfolgen im Gebrauche

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[852/0090] Halbtöne, theilen. Innerhalb dieſer Reihe, durch deren klare und gleichartige Gliederung das Reich der Töne bereits zu einem geordneten Ganzen, zum Tonſyſtem, erhoben iſt, treten aber auf Grund des natürlichen mathematiſchen Verhältniſſes der Töne zu einander auch noch weitere, jene Gliederung erſt wahrhaft vollendende Intervallverhältniſſe hervor, Verhältniſſe theils der Ein- heit (Einſtimmigkeit), theils der mehr oder weniger ſpezifiſchen Zuſammen- gehörigkeit entfernterer Töne unter ſich, das Verhältniß der Octave einer-, das der Quint, Quart und großen Terz andererſeits, während den andern größern Intervallen, Sext, Septime, kleiner Terz eine gleich ſpezifiſch aus- geprägte Beziehung ihrer Töne zu einander nicht zukommt. 1. Vom unterſten bis zum oberſten wahrnehmbaren Tone ließen ſich, wenn man die Höhenunterſchiede zwiſchen den Einzeltönen unendlich klein nähme, unzählige Zwiſchenſtufen denken; es iſt aber klar, daß die Unter- ſchiede der einander nächſtliegenden Töne deſto unbemerkbarer und unerfaß- barer werden, je weniger ſie von einander abſtehen, und daß daher nicht Kleinheit, ſondern eher Größe der Intervalle muſikaliſches Geſetz iſt. Zu kleine Intervalle können weder allgemein deutlich vernommen, noch vom ausübenden Muſiker leicht und ſicher hervorgebracht werden; ihr Gebrauch würde allen Eindruck des Hellen, Durchſichtigen, Freien unmöglich machen; wenn die Tonreihe in eine zu große Zahl kleiner Tonſtufen ſich zerſplittert, ſo ſind die Nachbartöne einander zu nahe, die diſtantern durch zu viele Zwiſchenſtufen von einander getrennt, ſowohl der klare Unterſchied als die nähere Beziehung der Töne zu einander iſt aufgehoben. Manche Völker des Alterthums, auch die Griechen, haben allerdings einen Werth auf kleine Intervalle gelegt und daher neben dem Fortgang durch Ganz- und Halb- töne auch den durch Viertelstöne für ſchön und effectreich gehalten, die ſo- genannte enharmoniſche Tonleiter; aber eine ſolche Tonfolge kann doch nur eine ſehr bedingte Anwendung finden, ſie würde bei längerem Gebrauch wegen der Anſtrengung des Unterſcheidens der Intervalle, ſowie wegen des Umſtandes, daß die Tonreihe in ſo ganz kleinen Abſätzen vorwärts rückte oder vielmehr ſchliche, auf Gehör und Phantaſie theils unnatürlich ſpannend und überreizend wirken, theils den Eindruck einer gedehnten, unklar gedrückten und gepreßten Bewegung hervorbringen. Eine ſolche einerſeits nervös auf- regende, andererſeits keinen freien und klaren Aufſchwung geſtattende Muſik kann natürlich nur da Platz finden, wo das Bewußtſein noch nicht zu wahrer Geiſtigkeit und Freiheit gekommen, ſondern noch mit einer ſinnlichen Beſtimmtheit des Fühlens behaftet iſt, die auf der einen Seite heftige Er- regung will, auf der andern einem trüben und dumpfen Empfinden ſich nicht zu entwinden im Stande iſt. Bemerkenswerth iſt es in dieſer Be- ziehung, daß dieſelben Völker, welche enharmoniſche Tonfolgen im Gebrauche

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 852. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/90>, abgerufen am 20.04.2024.