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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Hauptintervalle gliedert sich die Octave innerhalb ihrer selbst wiederum zu
kleinern Abschnitten, durch welche das Verhältniß der übrigen innerhalb der
Octave zu liegen kommenden Einzeltöne zu einander erst seine genauere natur-
gemäße Bestimmung empfängt. Zur Gliederung des Tonsystems tragen diese
Intervallverhältnisse aber auch dadurch bei, daß vermöge des von der Natur
fest bestimmten Charakters, der diesen Intervallen sowohl für sich als in ihrer
Verbindung mit einander eigen ist, in ihnen die ersten Grundlagen zu natur-
gemäßer, charakteristischer, ansprechender Verbindung der Töne (zur Melodie
und Harmonie) gegeben sind.

In §. 769, 1. ist darauf hingewiesen, daß die Musik vor Allem
distincte Intervalle bedarf, deutlich von einander geschiedene Klänge, deren
keiner ist was der andere, die Schärfe der Scheidung, der Auseinander-
haltung der einzelnen Momente ist das Erste, jeder Ton muß von seinem
Nachbar so weit abliegen, daß er unmittelbar als ein von ihm schlechthin
verschiedener vernommen wird, und diese Distinction muß sich durch die
ganze Tonreihe nach beiden Dimensionen hin in gleicher Weise vertheilen.
Allein wie schon dieß Verhältniß der Nachbartöne zu einander von der Art
sein muß, daß sie sich doch auch wiederum als Klänge vernehmen lassen,
die einander nicht schlechthin fremd, sondern nahe zusammengehörig, einander
einfach proportionirt sind: so tritt nun auch noch das weitere Postulat ein,
daß die Tonreihe nicht ein bloßes Aggregat verschiedener, heterogener, sich
fliehender Töne sei, sondern vielmehr ein Ganzes, innerhalb dessen sich auch
wieder eine Einheit, eine engere Zusammengehörigkeit, eine spezifische Ver-
wandtschaft einzelner seiner Theile und Stufen darstellt. Die Tonreihe
würde ein bestimmungs-, begriffs- und charakterloses Nebeneinander atomi-
stischer Toneindrücke, wenn nicht auch auf einzelnen ihrer Puncte ein solches
qualitatives Einheits- oder Verwandtschaftsverhältniß von Tönen zu ein-
ander hervorträte. Man kann sich dieß veranschaulichen, wenn man sich
vorstellt, die Tonreihe stiege in lauter Ganztönen aufwärts, die so weit
genommen wären, daß weder das Quinten- noch das Octavenverhältniß
irgendwo sich ergäbe; in diesem Fall wäre das Resultat ein Progreß in's
Unendliche, eine Reihe ohne Ende und Ziel, ohne Sinn und Zweck, eine
Reihe des abstracten Unterschieds, die durchaus in beziehungslose Tonatome
und Tondistanzen auseinander fiele, eine einseitige Expansion und Dis-
traction ohne alles Einheitsband. Einheit, klare innere Beziehung und
Verknüpfung, wie sie hienach erforderlich ist, kommt nun in die Tonreihe
zunächst in unmittelbarster einfachster Weise durch das von der Natur an
die Hand gegebene Octavenverhältniß, durch die absolute Einstimmung
der Octaventöne; durch sie theilt sich die ganze Tonreihe in Octavenabschnitte,
deren Anfang jedesmal durch den gleichlautenden, nur gehobenern und schärfern

Hauptintervalle gliedert ſich die Octave innerhalb ihrer ſelbſt wiederum zu
kleinern Abſchnitten, durch welche das Verhältniß der übrigen innerhalb der
Octave zu liegen kommenden Einzeltöne zu einander erſt ſeine genauere natur-
gemäße Beſtimmung empfängt. Zur Gliederung des Tonſyſtems tragen dieſe
Intervallverhältniſſe aber auch dadurch bei, daß vermöge des von der Natur
feſt beſtimmten Charakters, der dieſen Intervallen ſowohl für ſich als in ihrer
Verbindung mit einander eigen iſt, in ihnen die erſten Grundlagen zu natur-
gemäßer, charakteriſtiſcher, anſprechender Verbindung der Töne (zur Melodie
und Harmonie) gegeben ſind.

In §. 769, 1. iſt darauf hingewieſen, daß die Muſik vor Allem
diſtincte Intervalle bedarf, deutlich von einander geſchiedene Klänge, deren
keiner iſt was der andere, die Schärfe der Scheidung, der Auseinander-
haltung der einzelnen Momente iſt das Erſte, jeder Ton muß von ſeinem
Nachbar ſo weit abliegen, daß er unmittelbar als ein von ihm ſchlechthin
verſchiedener vernommen wird, und dieſe Diſtinction muß ſich durch die
ganze Tonreihe nach beiden Dimenſionen hin in gleicher Weiſe vertheilen.
Allein wie ſchon dieß Verhältniß der Nachbartöne zu einander von der Art
ſein muß, daß ſie ſich doch auch wiederum als Klänge vernehmen laſſen,
die einander nicht ſchlechthin fremd, ſondern nahe zuſammengehörig, einander
einfach proportionirt ſind: ſo tritt nun auch noch das weitere Poſtulat ein,
daß die Tonreihe nicht ein bloßes Aggregat verſchiedener, heterogener, ſich
fliehender Töne ſei, ſondern vielmehr ein Ganzes, innerhalb deſſen ſich auch
wieder eine Einheit, eine engere Zuſammengehörigkeit, eine ſpezifiſche Ver-
wandtſchaft einzelner ſeiner Theile und Stufen darſtellt. Die Tonreihe
würde ein beſtimmungs-, begriffs- und charakterloſes Nebeneinander atomi-
ſtiſcher Toneindrücke, wenn nicht auch auf einzelnen ihrer Puncte ein ſolches
qualitatives Einheits- oder Verwandtſchaftsverhältniß von Tönen zu ein-
ander hervorträte. Man kann ſich dieß veranſchaulichen, wenn man ſich
vorſtellt, die Tonreihe ſtiege in lauter Ganztönen aufwärts, die ſo weit
genommen wären, daß weder das Quinten- noch das Octavenverhältniß
irgendwo ſich ergäbe; in dieſem Fall wäre das Reſultat ein Progreß in’s
Unendliche, eine Reihe ohne Ende und Ziel, ohne Sinn und Zweck, eine
Reihe des abſtracten Unterſchieds, die durchaus in beziehungsloſe Tonatome
und Tondiſtanzen auseinander fiele, eine einſeitige Expanſion und Dis-
traction ohne alles Einheitsband. Einheit, klare innere Beziehung und
Verknüpfung, wie ſie hienach erforderlich iſt, kommt nun in die Tonreihe
zunächſt in unmittelbarſter einfachſter Weiſe durch das von der Natur an
die Hand gegebene Octavenverhältniß, durch die abſolute Einſtimmung
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deren Anfang jedesmal durch den gleichlautenden, nur gehobenern und ſchärfern

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[859/0097] Hauptintervalle gliedert ſich die Octave innerhalb ihrer ſelbſt wiederum zu kleinern Abſchnitten, durch welche das Verhältniß der übrigen innerhalb der Octave zu liegen kommenden Einzeltöne zu einander erſt ſeine genauere natur- gemäße Beſtimmung empfängt. Zur Gliederung des Tonſyſtems tragen dieſe Intervallverhältniſſe aber auch dadurch bei, daß vermöge des von der Natur feſt beſtimmten Charakters, der dieſen Intervallen ſowohl für ſich als in ihrer Verbindung mit einander eigen iſt, in ihnen die erſten Grundlagen zu natur- gemäßer, charakteriſtiſcher, anſprechender Verbindung der Töne (zur Melodie und Harmonie) gegeben ſind. In §. 769, 1. iſt darauf hingewieſen, daß die Muſik vor Allem diſtincte Intervalle bedarf, deutlich von einander geſchiedene Klänge, deren keiner iſt was der andere, die Schärfe der Scheidung, der Auseinander- haltung der einzelnen Momente iſt das Erſte, jeder Ton muß von ſeinem Nachbar ſo weit abliegen, daß er unmittelbar als ein von ihm ſchlechthin verſchiedener vernommen wird, und dieſe Diſtinction muß ſich durch die ganze Tonreihe nach beiden Dimenſionen hin in gleicher Weiſe vertheilen. Allein wie ſchon dieß Verhältniß der Nachbartöne zu einander von der Art ſein muß, daß ſie ſich doch auch wiederum als Klänge vernehmen laſſen, die einander nicht ſchlechthin fremd, ſondern nahe zuſammengehörig, einander einfach proportionirt ſind: ſo tritt nun auch noch das weitere Poſtulat ein, daß die Tonreihe nicht ein bloßes Aggregat verſchiedener, heterogener, ſich fliehender Töne ſei, ſondern vielmehr ein Ganzes, innerhalb deſſen ſich auch wieder eine Einheit, eine engere Zuſammengehörigkeit, eine ſpezifiſche Ver- wandtſchaft einzelner ſeiner Theile und Stufen darſtellt. Die Tonreihe würde ein beſtimmungs-, begriffs- und charakterloſes Nebeneinander atomi- ſtiſcher Toneindrücke, wenn nicht auch auf einzelnen ihrer Puncte ein ſolches qualitatives Einheits- oder Verwandtſchaftsverhältniß von Tönen zu ein- ander hervorträte. Man kann ſich dieß veranſchaulichen, wenn man ſich vorſtellt, die Tonreihe ſtiege in lauter Ganztönen aufwärts, die ſo weit genommen wären, daß weder das Quinten- noch das Octavenverhältniß irgendwo ſich ergäbe; in dieſem Fall wäre das Reſultat ein Progreß in’s Unendliche, eine Reihe ohne Ende und Ziel, ohne Sinn und Zweck, eine Reihe des abſtracten Unterſchieds, die durchaus in beziehungsloſe Tonatome und Tondiſtanzen auseinander fiele, eine einſeitige Expanſion und Dis- traction ohne alles Einheitsband. Einheit, klare innere Beziehung und Verknüpfung, wie ſie hienach erforderlich iſt, kommt nun in die Tonreihe zunächſt in unmittelbarſter einfachſter Weiſe durch das von der Natur an die Hand gegebene Octavenverhältniß, durch die abſolute Einſtimmung der Octaventöne; durch ſie theilt ſich die ganze Tonreihe in Octavenabſchnitte, deren Anfang jedesmal durch den gleichlautenden, nur gehobenern und ſchärfern

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 859. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/97>, abgerufen am 29.03.2024.