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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Dritte Gattung. pvi_1159.002
Die subjectiv=objective Kunstform oder die Dichtkunst.

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Das Wesen der Dichtkunst.
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a. Ueberhaupt.
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Die Kunst hat nunmehr alle Seiten der Erscheinung und der Art ihrer pvi_1159.008
Auffassung isolirt, welche überhaupt isolirt werden können. Jede dieser Beschränkungen pvi_1159.009
hat mit ihrem Werth auch ihre Mängel und Nachtheile geoffenbart pvi_1159.010
(vergl. §. 533); die letzte derselben, die Musik, hat mit der Form der Bewegung pvi_1159.011
von der subjectiven Welt Besitz genommen, aber die ganze objective pvi_1159.012
geopfert; die Nothwendigkeit des Schritts (vergl. §. 746), wodurch diese wieder pvi_1159.013
gewonnen und mit dem ganzen Reichthum der ersteren vereinigt werden soll, pvi_1159.014
hat sich nachdrücklich hervorgestellt.

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Das Gesetz, das uns im wissenschaftlichen Gange vorwärts treibt, ist pvi_1159.016
in dem angeführten §. 533 aufgestellt und erläutert. Es hat nun die bildende pvi_1159.017
Kunst das Object, d. h. die Welt als körperliche, sichtbare Realität, pvi_1159.018
im Raume nachgebildet und dem Auge vorgeführt; ihre Darstellung war pvi_1159.019
zuerst räumlich im engsten Sinne des Worts, indem sie die Bewegung, pvi_1159.020
welche den Raum in der Zeit überwindet, überhaupt nicht zum Gegenstand pvi_1159.021
ihrer Nachahmung machte, sondern nur die bewegungslose Masse zu reinen pvi_1159.022
Verhältnissen ordnete: als Baukunst; sie hat organisch sich Bewegendes pvi_1159.023
nachgebildet, aber ohne die Bewegung wirklich in ihr Werk aufzunehmen, pvi_1159.024
und sie hat zugleich von den Momenten, die das Sehen in sich begreift, pvi_1159.025
dasjenige, das sich auf die Form im engeren Sinne des Worts bezieht, pvi_1159.026
das tastende Verhalten des Auges isolirt: als Bildnerkunst; sie hat die

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Die subjectiv=objective Kunstform oder die Dichtkunst.

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Das Wesen der Dichtkunst.
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α. Ueberhaupt.
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§. 834.

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Die Kunst hat nunmehr alle Seiten der Erscheinung und der Art ihrer pvi_1159.008
Auffassung isolirt, welche überhaupt isolirt werden können. Jede dieser Beschränkungen pvi_1159.009
hat mit ihrem Werth auch ihre Mängel und Nachtheile geoffenbart pvi_1159.010
(vergl. §. 533); die letzte derselben, die Musik, hat mit der Form der Bewegung pvi_1159.011
von der subjectiven Welt Besitz genommen, aber die ganze objective pvi_1159.012
geopfert; die Nothwendigkeit des Schritts (vergl. §. 746), wodurch diese wieder pvi_1159.013
gewonnen und mit dem ganzen Reichthum der ersteren vereinigt werden soll, pvi_1159.014
hat sich nachdrücklich hervorgestellt.

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Das Gesetz, das uns im wissenschaftlichen Gange vorwärts treibt, ist pvi_1159.016
in dem angeführten §. 533 aufgestellt und erläutert. Es hat nun die bildende pvi_1159.017
Kunst das Object, d. h. die Welt als körperliche, sichtbare Realität, pvi_1159.018
im Raume nachgebildet und dem Auge vorgeführt; ihre Darstellung war pvi_1159.019
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nachgebildet, aber ohne die Bewegung wirklich in ihr Werk aufzunehmen, pvi_1159.024
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. E1159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/21>, abgerufen am 29.03.2024.