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Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810.

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dern mußten Sold empfangen, wodurch die Re¬
gierungen sich genöthigt sahen, die Völker mit
Abgaben zu erdrücken. Unter solchen Umständen
mußten die meisten Länder zur Hälfte Wüsten
bleiben; Tausend harter Ungerechtigkeiten und
Thorheiten, die natürliche Folge verkehrter Ein¬
richtungen, nicht zu gedenken.

Und die Menschen hatten doch damals, so
gut wie in unseren Zeiten, die göttliche Kraft
der Vernunft, auch Philosophen in Menge, welche,
die Natur dieser Vernunft zu erkennen, sie gleich¬
sam anatomisch zu zerlegen und scheidekünstlerisch
in ihre Bestandtheile aufzulösen strebten. Es
galt demungeachtet von ihnen, was einer ihrer
alten Dichter sang:

Unselig Mittelding vom Engel und vom Vieh,
Du prahlst mit der Vernunft, und du gebrauchst
sie nie.

Unter diesen Gesprächen kamen die Reisenden
durch einen kleinen Ort, wo sie ein dichtes Volk¬
gedränge und lauten Jubel wahrnahmen. Sich
von dem Anlaß dieser Erscheinung zu unterrich¬
ten, nahten sie, und sahen einen Aufzug zum
Mariatempel wimmeln. Wohlgeschmückte Prie¬
sterinnen gingen, einen lauten Chorgesang an¬

dern mußten Sold empfangen, wodurch die Re¬
gierungen ſich genoͤthigt ſahen, die Voͤlker mit
Abgaben zu erdruͤcken. Unter ſolchen Umſtaͤnden
mußten die meiſten Laͤnder zur Haͤlfte Wuͤſten
bleiben; Tauſend harter Ungerechtigkeiten und
Thorheiten, die natuͤrliche Folge verkehrter Ein¬
richtungen, nicht zu gedenken.

Und die Menſchen hatten doch damals, ſo
gut wie in unſeren Zeiten, die goͤttliche Kraft
der Vernunft, auch Philoſophen in Menge, welche,
die Natur dieſer Vernunft zu erkennen, ſie gleich¬
ſam anatomiſch zu zerlegen und ſcheidekuͤnſtleriſch
in ihre Beſtandtheile aufzuloͤſen ſtrebten. Es
galt demungeachtet von ihnen, was einer ihrer
alten Dichter ſang:

Unſelig Mittelding vom Engel und vom Vieh,
Du prahlſt mit der Vernunft, und du gebrauchſt
ſie nie.

Unter dieſen Geſpraͤchen kamen die Reiſenden
durch einen kleinen Ort, wo ſie ein dichtes Volk¬
gedraͤnge und lauten Jubel wahrnahmen. Sich
von dem Anlaß dieſer Erſcheinung zu unterrich¬
ten, nahten ſie, und ſahen einen Aufzug zum
Mariatempel wimmeln. Wohlgeſchmuͤckte Prie¬
ſterinnen gingen, einen lauten Chorgeſang an¬

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[172/0184] dern mußten Sold empfangen, wodurch die Re¬ gierungen ſich genoͤthigt ſahen, die Voͤlker mit Abgaben zu erdruͤcken. Unter ſolchen Umſtaͤnden mußten die meiſten Laͤnder zur Haͤlfte Wuͤſten bleiben; Tauſend harter Ungerechtigkeiten und Thorheiten, die natuͤrliche Folge verkehrter Ein¬ richtungen, nicht zu gedenken. Und die Menſchen hatten doch damals, ſo gut wie in unſeren Zeiten, die goͤttliche Kraft der Vernunft, auch Philoſophen in Menge, welche, die Natur dieſer Vernunft zu erkennen, ſie gleich¬ ſam anatomiſch zu zerlegen und ſcheidekuͤnſtleriſch in ihre Beſtandtheile aufzuloͤſen ſtrebten. Es galt demungeachtet von ihnen, was einer ihrer alten Dichter ſang: Unſelig Mittelding vom Engel und vom Vieh, Du prahlſt mit der Vernunft, und du gebrauchſt ſie nie. Unter dieſen Geſpraͤchen kamen die Reiſenden durch einen kleinen Ort, wo ſie ein dichtes Volk¬ gedraͤnge und lauten Jubel wahrnahmen. Sich von dem Anlaß dieſer Erſcheinung zu unterrich¬ ten, nahten ſie, und ſahen einen Aufzug zum Mariatempel wimmeln. Wohlgeſchmuͤckte Prie¬ ſterinnen gingen, einen lauten Chorgeſang an¬

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Zitationshilfe: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/184>, abgerufen am 29.03.2024.