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Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810.

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beim Leben um so weniger, als Schmeichelei in
Europa für das tiefste Verbrechen geachtet wird;
doch nach ihrem Tode erkennt das Bundesgericht,
wohin ihre Urne gebracht werden soll. Haben
sie die Bevölkerung gemehrt, erhoben sich Land¬
bau, Wissenschaft und Kunst in ihren Gebieten,
kömmt sie in den Tempel der Unsterblichkeit,
den du einst in Rom besuchen wirst. Sahen sie
aber die Regierung als einen Genuß, nicht als
eine Pflicht an, gelangt sie in einen gemeinen
Todtenacker, und wird der Vergessenheit über¬
geben. Auch ist es herkömmlich, daß dann die
Geschichte ihren Namen nicht nennt, sondern
nur sagt: In diesen Jahren herrschte ein Kö¬
nig, dem das Gehorchen besser gewesen wäre.

Als nach vielen blutigen Jahren die neue
Verfassung endlich gegründet werden konnte,
wollte man erst die Könige wählen, und immer
dem Weisesten in irgend einem Lande die Krone
geben. Allein die Schwierigkeiten bei der Wahl
mahnten ab, die Buhlerei um die Gunst des Vol¬
kes würde heuchlerischen Sinn hervorgebracht ha¬
ben, und die Stifter des großen Bundes heiligten
überall die Wahrheit. Aurelius, der große Kai¬
ser, von dem du schon oft hörtest, behielt dem¬

beim Leben um ſo weniger, als Schmeichelei in
Europa fuͤr das tiefſte Verbrechen geachtet wird;
doch nach ihrem Tode erkennt das Bundesgericht,
wohin ihre Urne gebracht werden ſoll. Haben
ſie die Bevoͤlkerung gemehrt, erhoben ſich Land¬
bau, Wiſſenſchaft und Kunſt in ihren Gebieten,
koͤmmt ſie in den Tempel der Unſterblichkeit,
den du einſt in Rom beſuchen wirſt. Sahen ſie
aber die Regierung als einen Genuß, nicht als
eine Pflicht an, gelangt ſie in einen gemeinen
Todtenacker, und wird der Vergeſſenheit uͤber¬
geben. Auch iſt es herkoͤmmlich, daß dann die
Geſchichte ihren Namen nicht nennt, ſondern
nur ſagt: In dieſen Jahren herrſchte ein Koͤ¬
nig, dem das Gehorchen beſſer geweſen waͤre.

Als nach vielen blutigen Jahren die neue
Verfaſſung endlich gegruͤndet werden konnte,
wollte man erſt die Koͤnige waͤhlen, und immer
dem Weiſeſten in irgend einem Lande die Krone
geben. Allein die Schwierigkeiten bei der Wahl
mahnten ab, die Buhlerei um die Gunſt des Vol¬
kes wuͤrde heuchleriſchen Sinn hervorgebracht ha¬
ben, und die Stifter des großen Bundes heiligten
uͤberall die Wahrheit. Aurelius, der große Kai¬
ſer, von dem du ſchon oft hoͤrteſt, behielt dem¬

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[181/0193] beim Leben um ſo weniger, als Schmeichelei in Europa fuͤr das tiefſte Verbrechen geachtet wird; doch nach ihrem Tode erkennt das Bundesgericht, wohin ihre Urne gebracht werden ſoll. Haben ſie die Bevoͤlkerung gemehrt, erhoben ſich Land¬ bau, Wiſſenſchaft und Kunſt in ihren Gebieten, koͤmmt ſie in den Tempel der Unſterblichkeit, den du einſt in Rom beſuchen wirſt. Sahen ſie aber die Regierung als einen Genuß, nicht als eine Pflicht an, gelangt ſie in einen gemeinen Todtenacker, und wird der Vergeſſenheit uͤber¬ geben. Auch iſt es herkoͤmmlich, daß dann die Geſchichte ihren Namen nicht nennt, ſondern nur ſagt: In dieſen Jahren herrſchte ein Koͤ¬ nig, dem das Gehorchen beſſer geweſen waͤre. Als nach vielen blutigen Jahren die neue Verfaſſung endlich gegruͤndet werden konnte, wollte man erſt die Koͤnige waͤhlen, und immer dem Weiſeſten in irgend einem Lande die Krone geben. Allein die Schwierigkeiten bei der Wahl mahnten ab, die Buhlerei um die Gunſt des Vol¬ kes wuͤrde heuchleriſchen Sinn hervorgebracht ha¬ ben, und die Stifter des großen Bundes heiligten uͤberall die Wahrheit. Aurelius, der große Kai¬ ſer, von dem du ſchon oft hoͤrteſt, behielt dem¬

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Zitationshilfe: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/193>, abgerufen am 29.03.2024.