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Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810.

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sie bereits erreicht an, den neunzehnten noch
nicht, den zwanzigsten unerreichbar. Sie er¬
kannte Raphael den Preis in Zeichnung und
Ausdruck zu, wenn dagegen Titian im Kolorit
ihn bei weiten übertraf, Rubens im Ausdruck
mit ihm wetteiferte, und ihn in der Zusammen¬
stellung zurückließ. Es mußte nun nothwendig
der Wunsch nach einem Gemälde entstehen, in
welchem die richtige Hand, die blühende Einbil¬
dung eines Raphael, mit der hohen Kräftigkeit
eines Rubens, und der sorgsamen lieblichen
Ausführung eines Titian gegattet waren. Lange
jedoch ward er umsonst gefühlt. Erst im zwan¬
zigsten Jahrhundert, nachdem die Künste unter
der Aegide eines langen Friedens ungestörter auf¬
blühen konnten, und eine kluge Regierung dem
Volke von Europa Reichthum genug erzogen hatte,
sie freundlich zu nähren, ließ sich erst die Vor¬
zeit wieder erreichen. Nun eilten die Fortschritte
glücklich. Die vervollkommnete Lehrmethode stärkte
früh der Zöglinge Fassungskraft, die mechanische
Fertigkeit konnte zeitiger errungen werden, die
Scheidekunst erfand eine bei weitem vortheil¬
haftere Bereitung der Farben. Um die Mitte
dieses Jahrhunderts vereinten die besseren Maler

schon

ſie bereits erreicht an, den neunzehnten noch
nicht, den zwanzigſten unerreichbar. Sie er¬
kannte Raphael den Preis in Zeichnung und
Ausdruck zu, wenn dagegen Titian im Kolorit
ihn bei weiten uͤbertraf, Rubens im Ausdruck
mit ihm wetteiferte, und ihn in der Zuſammen¬
ſtellung zuruͤckließ. Es mußte nun nothwendig
der Wunſch nach einem Gemaͤlde entſtehen, in
welchem die richtige Hand, die bluͤhende Einbil¬
dung eines Raphael, mit der hohen Kraͤftigkeit
eines Rubens, und der ſorgſamen lieblichen
Ausfuͤhrung eines Titian gegattet waren. Lange
jedoch ward er umſonſt gefuͤhlt. Erſt im zwan¬
zigſten Jahrhundert, nachdem die Kuͤnſte unter
der Aegide eines langen Friedens ungeſtoͤrter auf¬
bluͤhen konnten, und eine kluge Regierung dem
Volke von Europa Reichthum genug erzogen hatte,
ſie freundlich zu naͤhren, ließ ſich erſt die Vor¬
zeit wieder erreichen. Nun eilten die Fortſchritte
gluͤcklich. Die vervollkommnete Lehrmethode ſtaͤrkte
fruͤh der Zoͤglinge Faſſungskraft, die mechaniſche
Fertigkeit konnte zeitiger errungen werden, die
Scheidekunſt erfand eine bei weitem vortheil¬
haftere Bereitung der Farben. Um die Mitte
dieſes Jahrhunderts vereinten die beſſeren Maler

ſchon
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[64/0076] ſie bereits erreicht an, den neunzehnten noch nicht, den zwanzigſten unerreichbar. Sie er¬ kannte Raphael den Preis in Zeichnung und Ausdruck zu, wenn dagegen Titian im Kolorit ihn bei weiten uͤbertraf, Rubens im Ausdruck mit ihm wetteiferte, und ihn in der Zuſammen¬ ſtellung zuruͤckließ. Es mußte nun nothwendig der Wunſch nach einem Gemaͤlde entſtehen, in welchem die richtige Hand, die bluͤhende Einbil¬ dung eines Raphael, mit der hohen Kraͤftigkeit eines Rubens, und der ſorgſamen lieblichen Ausfuͤhrung eines Titian gegattet waren. Lange jedoch ward er umſonſt gefuͤhlt. Erſt im zwan¬ zigſten Jahrhundert, nachdem die Kuͤnſte unter der Aegide eines langen Friedens ungeſtoͤrter auf¬ bluͤhen konnten, und eine kluge Regierung dem Volke von Europa Reichthum genug erzogen hatte, ſie freundlich zu naͤhren, ließ ſich erſt die Vor¬ zeit wieder erreichen. Nun eilten die Fortſchritte gluͤcklich. Die vervollkommnete Lehrmethode ſtaͤrkte fruͤh der Zoͤglinge Faſſungskraft, die mechaniſche Fertigkeit konnte zeitiger errungen werden, die Scheidekunſt erfand eine bei weitem vortheil¬ haftere Bereitung der Farben. Um die Mitte dieſes Jahrhunderts vereinten die beſſeren Maler ſchon

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Zitationshilfe: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/76>, abgerufen am 18.04.2024.