Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee. Siebzehnter Gesang.
Und die Dienste zu thun, die mir ein Schaffner geböte.
Gehe denn. Dieser Mann wird mich nachführen, sobald ich
Mich am Feuer gewärmt, und die Sonne höher gestiegen.
Diese Lumpen bedecken mich nur! Die Kälte des Morgens
Möchte mir schaden; ihr sagt ja, die Stadt sei ferne von hinnen. 25

Also sprach er. Tälemachos ging aus der Pforte des Hofes,
Eilte mit hurtigen Füßen, und sann auf der Freier Verderben.
Als er jezo erreichte die schöngebauete Wohnung,
Stellt' er die Lanze hin an eine ragende Seule,
Ueberschritt dann selber die steinerne Schwelle des Saales. 30

Ihn erblickte zuerst die Pflegerin Eurükleia,
Welche mit Fellen bedeckte die künstlich gebildeten Throne.
Weinend lief sie gerad' auf ihn zu; es drängten sich um ihn
Auch die übrigen Mägde des leidengeübten Odüßeus,
Hießen ihn froh willkommen, und küßten ihm Schultern und Antliz. 35
Jezo ging aus der Kammer die kluge Pänelopeia,
Artemis gleich an Gestalt und der goldenen Afroditä;
Und mit Thränen schlang sie den lieben Sohn in die Arme,
Küßte sein Angesicht, und beide glänzenden Augen,
Und begann lautweinend, und sprach die geflügelten Worte: 40

Kommst du, Tälemachos, kommst du, mein süßes Leben. Ich hoffte
Nimmer dich wiederzusehn, da du ohne mein Wißen und Wollen
Warst gen Pülos geschifft, den lieben Vater zu suchen!
Aber verkündige mir, was du auf der Reise gesehn hast!

Und der verständige Jüngling Tälemachos sagte dagegen: 45
Mutter, erinnre mich nicht an meinen Kummer, und reize
Nicht zur Klage mein Herz, da ich kaum dem Verderben entflohn bin.
Sondern bade dich erst, und lege reine Gewand' an.

Oduͤßee. Siebzehnter Geſang.
Und die Dienſte zu thun, die mir ein Schaffner geboͤte.
Gehe denn. Dieſer Mann wird mich nachfuͤhren, ſobald ich
Mich am Feuer gewaͤrmt, und die Sonne hoͤher geſtiegen.
Dieſe Lumpen bedecken mich nur! Die Kaͤlte des Morgens
Moͤchte mir ſchaden; ihr ſagt ja, die Stadt ſei ferne von hinnen. 25

Alſo ſprach er. Taͤlemachos ging aus der Pforte des Hofes,
Eilte mit hurtigen Fuͤßen, und ſann auf der Freier Verderben.
Als er jezo erreichte die ſchoͤngebauete Wohnung,
Stellt' er die Lanze hin an eine ragende Seule,
Ueberſchritt dann ſelber die ſteinerne Schwelle des Saales. 30

Ihn erblickte zuerſt die Pflegerin Euruͤkleia,
Welche mit Fellen bedeckte die kuͤnſtlich gebildeten Throne.
Weinend lief ſie gerad' auf ihn zu; es draͤngten ſich um ihn
Auch die uͤbrigen Maͤgde des leidengeuͤbten Oduͤßeus,
Hießen ihn froh willkommen, und kuͤßten ihm Schultern und Antliz. 35
Jezo ging aus der Kammer die kluge Paͤnelopeia,
Artemis gleich an Geſtalt und der goldenen Afroditaͤ;
Und mit Thraͤnen ſchlang ſie den lieben Sohn in die Arme,
Kuͤßte ſein Angeſicht, und beide glaͤnzenden Augen,
Und begann lautweinend, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 40

Kommſt du, Taͤlemachos, kommſt du, mein ſuͤßes Leben. Ich hoffte
Nimmer dich wiederzuſehn, da du ohne mein Wißen und Wollen
Warſt gen Puͤlos geſchifft, den lieben Vater zu ſuchen!
Aber verkuͤndige mir, was du auf der Reiſe geſehn haſt!

Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: 45
Mutter, erinnre mich nicht an meinen Kummer, und reize
Nicht zur Klage mein Herz, da ich kaum dem Verderben entflohn bin.
Sondern bade dich erſt, und lege reine Gewand' an.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0329" n="323"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee. Siebzehnter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Und die Dien&#x017F;te zu thun, die mir ein Schaffner gebo&#x0364;te.<lb/>
Gehe denn. Die&#x017F;er Mann wird mich nachfu&#x0364;hren, &#x017F;obald ich<lb/>
Mich am Feuer gewa&#x0364;rmt, und die Sonne ho&#x0364;her ge&#x017F;tiegen.<lb/>
Die&#x017F;e Lumpen bedecken mich nur! Die Ka&#x0364;lte des Morgens<lb/>
Mo&#x0364;chte mir &#x017F;chaden; ihr &#x017F;agt ja, die Stadt &#x017F;ei ferne von hinnen. <note place="right">25</note></p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er. Ta&#x0364;lemachos ging aus der Pforte des Hofes,<lb/>
Eilte mit hurtigen Fu&#x0364;ßen, und &#x017F;ann auf der Freier Verderben.<lb/>
Als er jezo erreichte die &#x017F;cho&#x0364;ngebauete Wohnung,<lb/>
Stellt' er die Lanze hin an eine ragende Seule,<lb/>
Ueber&#x017F;chritt dann &#x017F;elber die &#x017F;teinerne Schwelle des Saales. <note place="right">30</note></p><lb/>
        <p>Ihn erblickte zuer&#x017F;t die Pflegerin Euru&#x0364;kleia,<lb/>
Welche mit Fellen bedeckte die ku&#x0364;n&#x017F;tlich gebildeten Throne.<lb/>
Weinend lief &#x017F;ie gerad' auf ihn zu; es dra&#x0364;ngten &#x017F;ich um ihn<lb/>
Auch die u&#x0364;brigen Ma&#x0364;gde des leidengeu&#x0364;bten Odu&#x0364;ßeus,<lb/>
Hießen ihn froh willkommen, und ku&#x0364;ßten ihm Schultern und Antliz. <note place="right">35</note><lb/>
Jezo ging aus der Kammer die kluge Pa&#x0364;nelopeia,<lb/>
Artemis gleich an Ge&#x017F;talt und der goldenen Afrodita&#x0364;;<lb/>
Und mit Thra&#x0364;nen &#x017F;chlang &#x017F;ie den lieben Sohn in die Arme,<lb/>
Ku&#x0364;ßte &#x017F;ein Ange&#x017F;icht, und beide gla&#x0364;nzenden Augen,<lb/>
Und begann lautweinend, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte: <note place="right">40</note></p><lb/>
        <p>Komm&#x017F;t du, Ta&#x0364;lemachos, komm&#x017F;t du, mein &#x017F;u&#x0364;ßes Leben. Ich hoffte<lb/>
Nimmer dich wiederzu&#x017F;ehn, da du ohne mein Wißen und Wollen<lb/>
War&#x017F;t gen Pu&#x0364;los ge&#x017F;chifft, den lieben Vater zu &#x017F;uchen!<lb/>
Aber verku&#x0364;ndige mir, was du auf der Rei&#x017F;e ge&#x017F;ehn ha&#x017F;t!</p><lb/>
        <p>Und der ver&#x017F;ta&#x0364;ndige Ju&#x0364;ngling Ta&#x0364;lemachos &#x017F;agte dagegen: <note place="right">45</note><lb/>
Mutter, erinnre mich nicht an meinen Kummer, und reize<lb/>
Nicht zur Klage mein Herz, da ich kaum dem Verderben entflohn bin.<lb/>
Sondern bade dich er&#x017F;t, und lege reine Gewand' an.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0329] Oduͤßee. Siebzehnter Geſang. Und die Dienſte zu thun, die mir ein Schaffner geboͤte. Gehe denn. Dieſer Mann wird mich nachfuͤhren, ſobald ich Mich am Feuer gewaͤrmt, und die Sonne hoͤher geſtiegen. Dieſe Lumpen bedecken mich nur! Die Kaͤlte des Morgens Moͤchte mir ſchaden; ihr ſagt ja, die Stadt ſei ferne von hinnen. 25 Alſo ſprach er. Taͤlemachos ging aus der Pforte des Hofes, Eilte mit hurtigen Fuͤßen, und ſann auf der Freier Verderben. Als er jezo erreichte die ſchoͤngebauete Wohnung, Stellt' er die Lanze hin an eine ragende Seule, Ueberſchritt dann ſelber die ſteinerne Schwelle des Saales. 30 Ihn erblickte zuerſt die Pflegerin Euruͤkleia, Welche mit Fellen bedeckte die kuͤnſtlich gebildeten Throne. Weinend lief ſie gerad' auf ihn zu; es draͤngten ſich um ihn Auch die uͤbrigen Maͤgde des leidengeuͤbten Oduͤßeus, Hießen ihn froh willkommen, und kuͤßten ihm Schultern und Antliz. Jezo ging aus der Kammer die kluge Paͤnelopeia, Artemis gleich an Geſtalt und der goldenen Afroditaͤ; Und mit Thraͤnen ſchlang ſie den lieben Sohn in die Arme, Kuͤßte ſein Angeſicht, und beide glaͤnzenden Augen, Und begann lautweinend, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 35 40 Kommſt du, Taͤlemachos, kommſt du, mein ſuͤßes Leben. Ich hoffte Nimmer dich wiederzuſehn, da du ohne mein Wißen und Wollen Warſt gen Puͤlos geſchifft, den lieben Vater zu ſuchen! Aber verkuͤndige mir, was du auf der Reiſe geſehn haſt! Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: Mutter, erinnre mich nicht an meinen Kummer, und reize Nicht zur Klage mein Herz, da ich kaum dem Verderben entflohn bin. Sondern bade dich erſt, und lege reine Gewand' an. 45

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/329
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/329>, abgerufen am 16.04.2024.