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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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Liebe, die von Seele zu Seele zittert, wie der
Echoklang von Berg zu Berg? Jst die heilige
Scheu, der ruhige, sich immer verstärkende Sinn,
das heitere züchtige Gefühl, gewichen aus deinem
Busen?

Jüngling! lenke deine Rosse! Deine Arme sind
stark. Der Strahl der Gottheit in deinem Jnnern
ist warm und groß. Lenke deine Rosse! Das Mäd-
chen deiner Liebe weint um dich! O schone die
Weiche! die erbebt vor dem Geschnaube deiner zü-
gellosen Rosse. Schone sie! sie sinkt auf die Kniee
vor dir, und bittet dich weinend: Liebender! schone
die Arme, die dich liebt.



Phaethons Zustand war schrecklich. Er rang
und kämpfte sich wund.

Den Tag über arbeitet' er. Man hört' ihn
oft die halbe Nacht hindurch laut weinen. Keine
Seele war um ihn, die ihn hätte trösten, seinen
Schmerz hätte lindern können. Wenn er ein Buch
zur Hand nahm, so warf ers gleich wieder auf die
Seite.

Liebe, die von Seele zu Seele zittert, wie der
Echoklang von Berg zu Berg? Jſt die heilige
Scheu, der ruhige, ſich immer verſtaͤrkende Sinn,
das heitere zuͤchtige Gefuͤhl, gewichen aus deinem
Buſen?

Juͤngling! lenke deine Roſſe! Deine Arme ſind
ſtark. Der Strahl der Gottheit in deinem Jnnern
iſt warm und groß. Lenke deine Roſſe! Das Maͤd-
chen deiner Liebe weint um dich! O ſchone die
Weiche! die erbebt vor dem Geſchnaube deiner zuͤ-
gelloſen Roſſe. Schone ſie! ſie ſinkt auf die Kniee
vor dir, und bittet dich weinend: Liebender! ſchone
die Arme, die dich liebt.



Phaethons Zuſtand war ſchrecklich. Er rang
und kaͤmpfte ſich wund.

Den Tag uͤber arbeitet’ er. Man hoͤrt’ ihn
oft die halbe Nacht hindurch laut weinen. Keine
Seele war um ihn, die ihn haͤtte troͤſten, ſeinen
Schmerz haͤtte lindern koͤnnen. Wenn er ein Buch
zur Hand nahm, ſo warf ers gleich wieder auf die
Seite.

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[123/0123] Liebe, die von Seele zu Seele zittert, wie der Echoklang von Berg zu Berg? Jſt die heilige Scheu, der ruhige, ſich immer verſtaͤrkende Sinn, das heitere zuͤchtige Gefuͤhl, gewichen aus deinem Buſen? Juͤngling! lenke deine Roſſe! Deine Arme ſind ſtark. Der Strahl der Gottheit in deinem Jnnern iſt warm und groß. Lenke deine Roſſe! Das Maͤd- chen deiner Liebe weint um dich! O ſchone die Weiche! die erbebt vor dem Geſchnaube deiner zuͤ- gelloſen Roſſe. Schone ſie! ſie ſinkt auf die Kniee vor dir, und bittet dich weinend: Liebender! ſchone die Arme, die dich liebt. Phaethons Zuſtand war ſchrecklich. Er rang und kaͤmpfte ſich wund. Den Tag uͤber arbeitet’ er. Man hoͤrt’ ihn oft die halbe Nacht hindurch laut weinen. Keine Seele war um ihn, die ihn haͤtte troͤſten, ſeinen Schmerz haͤtte lindern koͤnnen. Wenn er ein Buch zur Hand nahm, ſo warf ers gleich wieder auf die Seite.

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/123>, abgerufen am 29.03.2024.