digen, in den schneegewob'nen Schleyer gehüllten Haupte stand, wie auf der jungen, beblümten Wiese der Priester des Sonnengottes.
Dann dacht' ich an die schönen Zeiten, wo der fromme, dankbare Mensch alles, was um ihn war, Wälder und Fluren, Quellen und Flüsse, Thäler und Berge mit dem Geist einer Gottheit belebte, wo die Nymphen, die heitern Töchter der Natur, durch Blumen und Fluren irrten, in jedem Bau- me eine Dryas webte, über dem klaren spiegeln- den Wasser der volle Busen einer Göttinn schwoll und der muntere Pan Gebirg und Wald mit sei- nem Flötenklang erfüllte. Da schwebte das ganze Gewimmel der alten Götter an mir vorüber und ich sah sie um mich wirken und lächeln, als die Kräfte der heiligen, wirkenden Natur.
Jch wandelte durch die Ebene Mantineas und suchte das Grab des Epaminondas. Nie vergeß' ich diesen Morgen. Die Sonne war eben aufge- stiegen, und schien in ihrem wandellosen Licht herab auf die Erde, das ewige Spiel der Zerstörung und Umwandlung. Jch wand mich durch das Rosma- ringesträuch, das um die Gräber meiner Väter sich wob wie der Blumenkranz um das Haupt eines
digen, in den ſchneegewob’nen Schleyer gehuͤllten Haupte ſtand, wie auf der jungen, bebluͤmten Wieſe der Prieſter des Sonnengottes.
Dann dacht’ ich an die ſchoͤnen Zeiten, wo der fromme, dankbare Menſch alles, was um ihn war, Waͤlder und Fluren, Quellen und Fluͤſſe, Thaͤler und Berge mit dem Geiſt einer Gottheit belebte, wo die Nymphen, die heitern Toͤchter der Natur, durch Blumen und Fluren irrten, in jedem Bau- me eine Dryas webte, uͤber dem klaren ſpiegeln- den Waſſer der volle Buſen einer Goͤttinn ſchwoll und der muntere Pan Gebirg und Wald mit ſei- nem Floͤtenklang erfuͤllte. Da ſchwebte das ganze Gewimmel der alten Goͤtter an mir voruͤber und ich ſah ſie um mich wirken und laͤcheln, als die Kraͤfte der heiligen, wirkenden Natur.
Jch wandelte durch die Ebene Mantineas und ſuchte das Grab des Epaminondas. Nie vergeß’ ich dieſen Morgen. Die Sonne war eben aufge- ſtiegen, und ſchien in ihrem wandelloſen Licht herab auf die Erde, das ewige Spiel der Zerſtoͤrung und Umwandlung. Jch wand mich durch das Rosma- ringeſtraͤuch, das um die Graͤber meiner Vaͤter ſich wob wie der Blumenkranz um das Haupt eines
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digen, in den ſchneegewob’nen Schleyer gehuͤllten
Haupte ſtand, wie auf der jungen, bebluͤmten Wieſe
der Prieſter des Sonnengottes.
Dann dacht’ ich an die ſchoͤnen Zeiten, wo der
fromme, dankbare Menſch alles, was um ihn war,
Waͤlder und Fluren, Quellen und Fluͤſſe, Thaͤler
und Berge mit dem Geiſt einer Gottheit belebte,
wo die Nymphen, die heitern Toͤchter der Natur,
durch Blumen und Fluren irrten, in jedem Bau-
me eine Dryas webte, uͤber dem klaren ſpiegeln-
den Waſſer der volle Buſen einer Goͤttinn ſchwoll
und der muntere Pan Gebirg und Wald mit ſei-
nem Floͤtenklang erfuͤllte. Da ſchwebte das ganze
Gewimmel der alten Goͤtter an mir voruͤber und
ich ſah ſie um mich wirken und laͤcheln, als die
Kraͤfte der heiligen, wirkenden Natur.
Jch wandelte durch die Ebene Mantineas und
ſuchte das Grab des Epaminondas. Nie vergeß’
ich dieſen Morgen. Die Sonne war eben aufge-
ſtiegen, und ſchien in ihrem wandelloſen Licht herab
auf die Erde, das ewige Spiel der Zerſtoͤrung und
Umwandlung. Jch wand mich durch das Rosma-
ringeſtraͤuch, das um die Graͤber meiner Vaͤter ſich
wob wie der Blumenkranz um das Haupt eines
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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/26>, abgerufen am 05.06.2023.
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