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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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schönste, vollendetste Werk des Schöpfers; denn die
Seele ist ja kein Werk, sondern entflossen aus Gott,
ewig, einfach.

Auch die Auflösung des Körpers geschieht nicht
plötzlich, sondern nur allmählich. Wenn er endlich
stirbt, so lösen die edelsten geistigen Säfte sich von
ihm ab, und bilden einen für uns unbegreiflichen
feinern und zartgewebten Lichtkörper. Denn nicht
mehr das rauhe Element der Erde bildet die Hülle,
sondern das zartere des Lichts.

Aber nicht auf einmal kann die befreyte Seele
nun der Gottheit nahe kommen. Der Abstand ist
zu groß. Darum schwebt sie auf eine andere
Welt, wo sie vollkomm'nerer Wirksamkeit sich er-
freuet. Da aber alle Seelen, die in unserer Welt
waren, einen gleichorganisirten Körper hatten, so
muß auch bey allen dieselbe Körperauflösung, die-
selbe Bildung einer neuen Hülle Statt finden. Aus
eben diesem Grunde kommen sie auch in die gleiche
Welt. Denn die Abstufungen von Vervollkomm-
nung unter uns sind zu gering gegen das Riesen-
mäßige des Unendlichen *). So wandeln wir

*) noun pas omoios esi kai o elas-son. Anaxag.

ſchoͤnſte, vollendetſte Werk des Schoͤpfers; denn die
Seele iſt ja kein Werk, ſondern entfloſſen aus Gott,
ewig, einfach.

Auch die Aufloͤſung des Koͤrpers geſchieht nicht
ploͤtzlich, ſondern nur allmaͤhlich. Wenn er endlich
ſtirbt, ſo loͤſen die edelſten geiſtigen Saͤfte ſich von
ihm ab, und bilden einen fuͤr uns unbegreiflichen
feinern und zartgewebten Lichtkoͤrper. Denn nicht
mehr das rauhe Element der Erde bildet die Huͤlle,
ſondern das zartere des Lichts.

Aber nicht auf einmal kann die befreyte Seele
nun der Gottheit nahe kommen. Der Abſtand iſt
zu groß. Darum ſchwebt ſie auf eine andere
Welt, wo ſie vollkomm’nerer Wirkſamkeit ſich er-
freuet. Da aber alle Seelen, die in unſerer Welt
waren, einen gleichorganiſirten Koͤrper hatten, ſo
muß auch bey allen dieſelbe Koͤrperaufloͤſung, die-
ſelbe Bildung einer neuen Huͤlle Statt finden. Aus
eben dieſem Grunde kommen ſie auch in die gleiche
Welt. Denn die Abſtufungen von Vervollkomm-
nung unter uns ſind zu gering gegen das Rieſen-
maͤßige des Unendlichen *). So wandeln wir

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[57/0057] ſchoͤnſte, vollendetſte Werk des Schoͤpfers; denn die Seele iſt ja kein Werk, ſondern entfloſſen aus Gott, ewig, einfach. Auch die Aufloͤſung des Koͤrpers geſchieht nicht ploͤtzlich, ſondern nur allmaͤhlich. Wenn er endlich ſtirbt, ſo loͤſen die edelſten geiſtigen Saͤfte ſich von ihm ab, und bilden einen fuͤr uns unbegreiflichen feinern und zartgewebten Lichtkoͤrper. Denn nicht mehr das rauhe Element der Erde bildet die Huͤlle, ſondern das zartere des Lichts. Aber nicht auf einmal kann die befreyte Seele nun der Gottheit nahe kommen. Der Abſtand iſt zu groß. Darum ſchwebt ſie auf eine andere Welt, wo ſie vollkomm’nerer Wirkſamkeit ſich er- freuet. Da aber alle Seelen, die in unſerer Welt waren, einen gleichorganiſirten Koͤrper hatten, ſo muß auch bey allen dieſelbe Koͤrperaufloͤſung, die- ſelbe Bildung einer neuen Huͤlle Statt finden. Aus eben dieſem Grunde kommen ſie auch in die gleiche Welt. Denn die Abſtufungen von Vervollkomm- nung unter uns ſind zu gering gegen das Rieſen- maͤßige des Unendlichen *). So wandeln wir *) νουν πας ὁμοιος ἐςι ϰαι ὁ ἐλασ-σων. Αναξαγ.

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/57>, abgerufen am 19.04.2024.