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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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Wenn sich aber beydes eint, wie mit einem
weichen Kuß der Liebe, dann entzückt es nicht so-
wohl die Sinne, als den Geist. Er öffnet sich
dann in seiner Fülle, wie die aufgehende Morgen-
rose.

Die höchste Eigenschaft dieser Schönheit ist
Reinheit. Sie ist wie eine weiße, gestaltete Licht-
flamme. Auch ist sie mäßig bey aller Fülle. Jhr
Auge ist die unergründbare Tiefe der Seele, das
innigste, wärmste Leben des Gemüths, das Em-
pfindung aus sich sendet, wie Lichtstrahlen die Son-
ne. Der Mund ist das Geheimniß der Einung
durch den Kuß, und die Strahlen, die durch das
Auge flossen, quillen aus ihm in dem Augenblick,
wo die Sehnsucht gestillt wird. Aus dieser Einung
aber wird ein drittes erzeugt, und der schwellende
Busen ist die Fülle der Fruchtbarkeit.

Das helle Sonnenlicht drang durch die Fen-
ster. Atalanta stand vor mir. Jch folgte der Na-
tur in der Bildung ihrer Schönheit, und ahmte
sie nach in ihren fließenden Formen, in ihren Wel-
lenlinien, in ihren zartgehauchten Rundungen, in
ihren wallenden Wölbungen. Wie der Schleyer
vom seligsten, tiefsten Geheimniß, war die letzte
Hülle gefallen, und ihr Busen quoll, wie zarte

Wenn ſich aber beydes eint, wie mit einem
weichen Kuß der Liebe, dann entzuͤckt es nicht ſo-
wohl die Sinne, als den Geiſt. Er oͤffnet ſich
dann in ſeiner Fuͤlle, wie die aufgehende Morgen-
roſe.

Die hoͤchſte Eigenſchaft dieſer Schoͤnheit iſt
Reinheit. Sie iſt wie eine weiße, geſtaltete Licht-
flamme. Auch iſt ſie maͤßig bey aller Fuͤlle. Jhr
Auge iſt die unergruͤndbare Tiefe der Seele, das
innigſte, waͤrmſte Leben des Gemuͤths, das Em-
pfindung aus ſich ſendet, wie Lichtſtrahlen die Son-
ne. Der Mund iſt das Geheimniß der Einung
durch den Kuß, und die Strahlen, die durch das
Auge floſſen, quillen aus ihm in dem Augenblick,
wo die Sehnſucht geſtillt wird. Aus dieſer Einung
aber wird ein drittes erzeugt, und der ſchwellende
Buſen iſt die Fuͤlle der Fruchtbarkeit.

Das helle Sonnenlicht drang durch die Fen-
ſter. Atalanta ſtand vor mir. Jch folgte der Na-
tur in der Bildung ihrer Schoͤnheit, und ahmte
ſie nach in ihren fließenden Formen, in ihren Wel-
lenlinien, in ihren zartgehauchten Rundungen, in
ihren wallenden Woͤlbungen. Wie der Schleyer
vom ſeligſten, tiefſten Geheimniß, war die letzte
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[63/0063] Wenn ſich aber beydes eint, wie mit einem weichen Kuß der Liebe, dann entzuͤckt es nicht ſo- wohl die Sinne, als den Geiſt. Er oͤffnet ſich dann in ſeiner Fuͤlle, wie die aufgehende Morgen- roſe. Die hoͤchſte Eigenſchaft dieſer Schoͤnheit iſt Reinheit. Sie iſt wie eine weiße, geſtaltete Licht- flamme. Auch iſt ſie maͤßig bey aller Fuͤlle. Jhr Auge iſt die unergruͤndbare Tiefe der Seele, das innigſte, waͤrmſte Leben des Gemuͤths, das Em- pfindung aus ſich ſendet, wie Lichtſtrahlen die Son- ne. Der Mund iſt das Geheimniß der Einung durch den Kuß, und die Strahlen, die durch das Auge floſſen, quillen aus ihm in dem Augenblick, wo die Sehnſucht geſtillt wird. Aus dieſer Einung aber wird ein drittes erzeugt, und der ſchwellende Buſen iſt die Fuͤlle der Fruchtbarkeit. Das helle Sonnenlicht drang durch die Fen- ſter. Atalanta ſtand vor mir. Jch folgte der Na- tur in der Bildung ihrer Schoͤnheit, und ahmte ſie nach in ihren fließenden Formen, in ihren Wel- lenlinien, in ihren zartgehauchten Rundungen, in ihren wallenden Woͤlbungen. Wie der Schleyer vom ſeligſten, tiefſten Geheimniß, war die letzte Huͤlle gefallen, und ihr Buſen quoll, wie zarte

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/63>, abgerufen am 20.04.2024.