Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

aus den Wurzeln gerissen werden .... mit einem-
mal .... das möcht' ich lieber!

Die Menschen sind mir viel zu altklug, haben
viel zu wenig Kindersinn. Das Frische, Jugend-
liche, die Einfalt ist doch mehr, als all' das ver-
drießliche Fortschlendern, das in einander Greifen
von tausend verwobenen Sitten und Gebräuchen.

Das ist die höchste, die alleinwahre Tugend,
die unmittelbar aus dem Jnnern quillt, ohne Ge-
setz und Vorschrift, ohne Buchstaben und Wort,
mitten aus dem Geiste, durch seine eigenthümliche
Kraft, durch die Stimme des Göttlichen in ihm.
So geradezu handeln, wie's einem der Geist ein-
giebt, dem innern Drange folgen und dem unver-
dorb'nen Sinn und Herzen, das gefällt mir, und
das thun die Kinder.

Jch hab' auch so einen Knaben um mich. Du
solltest den Jungen sehen mit seiner vollen Trau-
benwange, seinem Feuerauge, seinen langen blon-
den Locken.

Oft wandl' ich an seiner Hand durch stille
grüne Wiesen; der Kleine vergnügt mich mit tau-
send sonderbaren Fragen, die ich oft nicht zu beant-

aus den Wurzeln geriſſen werden .... mit einem-
mal .... das moͤcht’ ich lieber!

Die Menſchen ſind mir viel zu altklug, haben
viel zu wenig Kinderſinn. Das Friſche, Jugend-
liche, die Einfalt iſt doch mehr, als all’ das ver-
drießliche Fortſchlendern, das in einander Greifen
von tauſend verwobenen Sitten und Gebraͤuchen.

Das iſt die hoͤchſte, die alleinwahre Tugend,
die unmittelbar aus dem Jnnern quillt, ohne Ge-
ſetz und Vorſchrift, ohne Buchſtaben und Wort,
mitten aus dem Geiſte, durch ſeine eigenthuͤmliche
Kraft, durch die Stimme des Goͤttlichen in ihm.
So geradezu handeln, wie’s einem der Geiſt ein-
giebt, dem innern Drange folgen und dem unver-
dorb’nen Sinn und Herzen, das gefaͤllt mir, und
das thun die Kinder.

Jch hab’ auch ſo einen Knaben um mich. Du
ſollteſt den Jungen ſehen mit ſeiner vollen Trau-
benwange, ſeinem Feuerauge, ſeinen langen blon-
den Locken.

Oft wandl’ ich an ſeiner Hand durch ſtille
gruͤne Wieſen; der Kleine vergnuͤgt mich mit tau-
ſend ſonderbaren Fragen, die ich oft nicht zu beant-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0092" n="92"/>
aus den Wurzeln geri&#x017F;&#x017F;en werden .... mit einem-<lb/>
mal .... das mo&#x0364;cht&#x2019; ich lieber!</p><lb/>
        <p>Die Men&#x017F;chen &#x017F;ind mir viel zu altklug, haben<lb/>
viel zu wenig Kinder&#x017F;inn. Das Fri&#x017F;che, Jugend-<lb/>
liche, die Einfalt i&#x017F;t doch mehr, als all&#x2019; das ver-<lb/>
drießliche Fort&#x017F;chlendern, das in einander Greifen<lb/>
von tau&#x017F;end verwobenen Sitten und Gebra&#x0364;uchen.</p><lb/>
        <p>Das i&#x017F;t die ho&#x0364;ch&#x017F;te, die alleinwahre Tugend,<lb/>
die unmittelbar aus dem Jnnern quillt, ohne Ge-<lb/>
&#x017F;etz und Vor&#x017F;chrift, ohne Buch&#x017F;taben und Wort,<lb/>
mitten aus dem Gei&#x017F;te, durch &#x017F;eine eigenthu&#x0364;mliche<lb/>
Kraft, durch die Stimme des Go&#x0364;ttlichen in ihm.<lb/>
So geradezu handeln, wie&#x2019;s einem der Gei&#x017F;t ein-<lb/>
giebt, dem innern Drange folgen und dem unver-<lb/>
dorb&#x2019;nen Sinn und Herzen, das gefa&#x0364;llt mir, <hi rendition="#g">und<lb/>
das thun die Kinder.</hi></p><lb/>
        <p>Jch hab&#x2019; auch &#x017F;o einen Knaben um mich. Du<lb/>
&#x017F;ollte&#x017F;t den Jungen &#x017F;ehen mit &#x017F;einer vollen Trau-<lb/>
benwange, &#x017F;einem Feuerauge, &#x017F;einen langen blon-<lb/>
den Locken.</p><lb/>
        <p>Oft wandl&#x2019; ich an &#x017F;einer Hand durch &#x017F;tille<lb/>
gru&#x0364;ne Wie&#x017F;en; der Kleine vergnu&#x0364;gt mich mit tau-<lb/>
&#x017F;end &#x017F;onderbaren Fragen, die ich oft nicht zu beant-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0092] aus den Wurzeln geriſſen werden .... mit einem- mal .... das moͤcht’ ich lieber! Die Menſchen ſind mir viel zu altklug, haben viel zu wenig Kinderſinn. Das Friſche, Jugend- liche, die Einfalt iſt doch mehr, als all’ das ver- drießliche Fortſchlendern, das in einander Greifen von tauſend verwobenen Sitten und Gebraͤuchen. Das iſt die hoͤchſte, die alleinwahre Tugend, die unmittelbar aus dem Jnnern quillt, ohne Ge- ſetz und Vorſchrift, ohne Buchſtaben und Wort, mitten aus dem Geiſte, durch ſeine eigenthuͤmliche Kraft, durch die Stimme des Goͤttlichen in ihm. So geradezu handeln, wie’s einem der Geiſt ein- giebt, dem innern Drange folgen und dem unver- dorb’nen Sinn und Herzen, das gefaͤllt mir, und das thun die Kinder. Jch hab’ auch ſo einen Knaben um mich. Du ſollteſt den Jungen ſehen mit ſeiner vollen Trau- benwange, ſeinem Feuerauge, ſeinen langen blon- den Locken. Oft wandl’ ich an ſeiner Hand durch ſtille gruͤne Wieſen; der Kleine vergnuͤgt mich mit tau- ſend ſonderbaren Fragen, die ich oft nicht zu beant-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/92
Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/92>, abgerufen am 19.04.2024.