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Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ihm vorführten. Hatte er eigentlich je einen eigenen Willen ihr gegenüber gehabt? War er je im Stande gewesen, dauernd Widerstand zu leisten, wenn sie nicht seiner Meinung war? Und hielt der Grund ewig vor, den sie für seine Unterordnung geltend machte, immer, immer wieder, daß sie nämlich an seiner Wiege ihre Jugendtage versäumt und seinetwegen nicht geheirathet habe? Der Küster rückte den Filzhut aus der Stirne. Wie lange in aller Welt hatte er denn in der Wiege gelegen? Es kam ihm zum erstenmal in seinem Leben der Gedanke, daß das nicht so viele Jahre gewesen sein konnte, als ein junges Mädchen zum Blühen braucht. Er dachte Anfangs, über fünf Jahre habe er doch schwerlich in dem Korbmacherbette verträumt; dann schienen ihm vier Jahre noch mehr, als aller Wahrscheinlichkeit nach seine Wiegenzeit gedauert hatte. Endlich fiel ihm ein, sein jüngstes Schwesterchen habe er selbst gewiegt und im zweiten Jahre sei es schon ins Holzbett gekommen. Er war über die Kürze der ihm als endlos vorgehaltenen Opferjahre so außer Fassung gebracht, daß er seinen Filzhut abnehmen mußte, um sich Luft und Erleichterung zu verschaffen. Aber freilich, was folgte daraus, wenn er auch die Schuld seiner Dankbarkeit gegen die Schwester um eine runde Summe verminderte? Blieb deßhalb weniger wahr, daß er Küster zu Hedeper geworden, daß ein Küster zu Hedeper seit Menschengedenken zur Ehelosigkeit verurtheilt und als ein Wesen betrachtet war, über dessen Thun und Lassen aus diesem

ihm vorführten. Hatte er eigentlich je einen eigenen Willen ihr gegenüber gehabt? War er je im Stande gewesen, dauernd Widerstand zu leisten, wenn sie nicht seiner Meinung war? Und hielt der Grund ewig vor, den sie für seine Unterordnung geltend machte, immer, immer wieder, daß sie nämlich an seiner Wiege ihre Jugendtage versäumt und seinetwegen nicht geheirathet habe? Der Küster rückte den Filzhut aus der Stirne. Wie lange in aller Welt hatte er denn in der Wiege gelegen? Es kam ihm zum erstenmal in seinem Leben der Gedanke, daß das nicht so viele Jahre gewesen sein konnte, als ein junges Mädchen zum Blühen braucht. Er dachte Anfangs, über fünf Jahre habe er doch schwerlich in dem Korbmacherbette verträumt; dann schienen ihm vier Jahre noch mehr, als aller Wahrscheinlichkeit nach seine Wiegenzeit gedauert hatte. Endlich fiel ihm ein, sein jüngstes Schwesterchen habe er selbst gewiegt und im zweiten Jahre sei es schon ins Holzbett gekommen. Er war über die Kürze der ihm als endlos vorgehaltenen Opferjahre so außer Fassung gebracht, daß er seinen Filzhut abnehmen mußte, um sich Luft und Erleichterung zu verschaffen. Aber freilich, was folgte daraus, wenn er auch die Schuld seiner Dankbarkeit gegen die Schwester um eine runde Summe verminderte? Blieb deßhalb weniger wahr, daß er Küster zu Hedeper geworden, daß ein Küster zu Hedeper seit Menschengedenken zur Ehelosigkeit verurtheilt und als ein Wesen betrachtet war, über dessen Thun und Lassen aus diesem

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:58:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:58:19Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910/52>, abgerufen am 29.03.2024.