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Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Als der Küster das alte Liebeslied zu Ende geblasen und den letzten Ton lange angehalten hatte, immer, immer fort, so weit nur der Athem reichte, streckte er zum Schluß den Kopf noch einmal aus dem Schallloche und gewahrte, daß sich die Gardine des im Giebelhause geöffneten Fensters bewegte, als ob so eben erst eine andächtige Zuhörerin zurückgetreten sei. Der Gedanke, daß sie allein vielleicht in der ganzen Gemeinde den Text des Liedes kennen werde, trieb ihm das Blut in die Wangen, aber auch ein Lächeln auf die Lippen, und fröhlicher bewegt, als je in seinem Leben, schloß er das Schallloch, um aus seiner Höhe in die Küsterei hinabzusteigen. Es hatte sich zwischen dem Laden des Schalllochs und der Thurmbekleidung etwas eingeklemmt, das beim Schließen frei ward und hinab fiel. Er blickte hinterdrein, hörte indessen nur einen hellen Metallklang, veranlaßt durch das Niederfallen des Gegenstandes auf die Grabsteine unterhalb des Thurms. Beim Nachsuchen vermißte er den Kammerschlüssel, den er zum Zurechtklopfen des launenhaften Mundstücks mit auf den Thurm zu nehmen pflegte. Eine Bangigkeit beschlich ihn, dies könne das vom Schicksal erbetene Warnungszeichen sein. Hatte er zu früh gefrohlockt und etwas Unziemliches begangen, als er das Liebeslied vom Thurm herabblies, daß ihm jetzt die Gräber unten Antwort sandten? Mit schwerem Herzen stieg er die knarrende Treppe hinab und las unten auf dem Kirchhof seinen platt gefallenen Kammerschlüssel auf. Wie war ihm doch mit einem Male

Als der Küster das alte Liebeslied zu Ende geblasen und den letzten Ton lange angehalten hatte, immer, immer fort, so weit nur der Athem reichte, streckte er zum Schluß den Kopf noch einmal aus dem Schallloche und gewahrte, daß sich die Gardine des im Giebelhause geöffneten Fensters bewegte, als ob so eben erst eine andächtige Zuhörerin zurückgetreten sei. Der Gedanke, daß sie allein vielleicht in der ganzen Gemeinde den Text des Liedes kennen werde, trieb ihm das Blut in die Wangen, aber auch ein Lächeln auf die Lippen, und fröhlicher bewegt, als je in seinem Leben, schloß er das Schallloch, um aus seiner Höhe in die Küsterei hinabzusteigen. Es hatte sich zwischen dem Laden des Schalllochs und der Thurmbekleidung etwas eingeklemmt, das beim Schließen frei ward und hinab fiel. Er blickte hinterdrein, hörte indessen nur einen hellen Metallklang, veranlaßt durch das Niederfallen des Gegenstandes auf die Grabsteine unterhalb des Thurms. Beim Nachsuchen vermißte er den Kammerschlüssel, den er zum Zurechtklopfen des launenhaften Mundstücks mit auf den Thurm zu nehmen pflegte. Eine Bangigkeit beschlich ihn, dies könne das vom Schicksal erbetene Warnungszeichen sein. Hatte er zu früh gefrohlockt und etwas Unziemliches begangen, als er das Liebeslied vom Thurm herabblies, daß ihm jetzt die Gräber unten Antwort sandten? Mit schwerem Herzen stieg er die knarrende Treppe hinab und las unten auf dem Kirchhof seinen platt gefallenen Kammerschlüssel auf. Wie war ihm doch mit einem Male

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[0071] Als der Küster das alte Liebeslied zu Ende geblasen und den letzten Ton lange angehalten hatte, immer, immer fort, so weit nur der Athem reichte, streckte er zum Schluß den Kopf noch einmal aus dem Schallloche und gewahrte, daß sich die Gardine des im Giebelhause geöffneten Fensters bewegte, als ob so eben erst eine andächtige Zuhörerin zurückgetreten sei. Der Gedanke, daß sie allein vielleicht in der ganzen Gemeinde den Text des Liedes kennen werde, trieb ihm das Blut in die Wangen, aber auch ein Lächeln auf die Lippen, und fröhlicher bewegt, als je in seinem Leben, schloß er das Schallloch, um aus seiner Höhe in die Küsterei hinabzusteigen. Es hatte sich zwischen dem Laden des Schalllochs und der Thurmbekleidung etwas eingeklemmt, das beim Schließen frei ward und hinab fiel. Er blickte hinterdrein, hörte indessen nur einen hellen Metallklang, veranlaßt durch das Niederfallen des Gegenstandes auf die Grabsteine unterhalb des Thurms. Beim Nachsuchen vermißte er den Kammerschlüssel, den er zum Zurechtklopfen des launenhaften Mundstücks mit auf den Thurm zu nehmen pflegte. Eine Bangigkeit beschlich ihn, dies könne das vom Schicksal erbetene Warnungszeichen sein. Hatte er zu früh gefrohlockt und etwas Unziemliches begangen, als er das Liebeslied vom Thurm herabblies, daß ihm jetzt die Gräber unten Antwort sandten? Mit schwerem Herzen stieg er die knarrende Treppe hinab und las unten auf dem Kirchhof seinen platt gefallenen Kammerschlüssel auf. Wie war ihm doch mit einem Male

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:58:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:58:19Z)

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Zitationshilfe: Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910/71>, abgerufen am 28.03.2024.