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Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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auf die Lippen trieben, nach den beklemmenden Empfindungen, die sie beschlichen, als von der Orgel der Choral:

"Meine Liebe hängt am Kreuz..."

an ihrer Hochzeit ihr ins halb betäubte Ohr klang.

Und auch er -- besann auch er sich nicht auf jene nämliche bange Stunde, über die er damals nicht nachzudenken wagte? Kamen ihm nicht kalte Decembermorgen ins Gedächtniß, an denen er lange in Gedanken am Fenster stand, hinüberblickend nach dem Giebelhause, wo die Pfarrerstochter nicht mehr zu sehen war, und von dem Gefühl seiner Einsamkeit ergriffen, wie es nur im trostlosen Winter ganz so heftig möglich ist? Erinnerte er sich nicht der Februarpredigten, die er einen Monat lang an des seligen Pfarrers Stelle abgelesen hatte, weil diesem die Kälte zu arg gewesen war, und der regelmäßigen Zuhörerin im Pfarrbetstuhl, die ohne Feuertöpfchen von Anfang bis Ende andächtig aushielt? Waren denn die Weihnachtskuchen zu vergessen, welche am heiligen Abend die einsame Küsterei mit Duft erfüllten, und die seine Vorgänger noch nicht gekannt hatten, die erst des polternden Herrn Pfarrers junge Gatttin einführte? Hatte es nicht zu Pfingsten, wenn Kanzel, Orgel und Altar bekränzt wurden, auch allemal für die Küsterei einen Kranz gegeben, der bis Martini über dem Kreidebilde hängen blieb und dem kaffeebraunen Hinterstübchen einen Festanstrich verlieh? Verschüttete der Küster nicht an einem Charfreitag einmal vom heiligen Wein, als er dem Herrn Pfarrer secundiren mußte und

auf die Lippen trieben, nach den beklemmenden Empfindungen, die sie beschlichen, als von der Orgel der Choral:

„Meine Liebe hängt am Kreuz...“

an ihrer Hochzeit ihr ins halb betäubte Ohr klang.

Und auch er — besann auch er sich nicht auf jene nämliche bange Stunde, über die er damals nicht nachzudenken wagte? Kamen ihm nicht kalte Decembermorgen ins Gedächtniß, an denen er lange in Gedanken am Fenster stand, hinüberblickend nach dem Giebelhause, wo die Pfarrerstochter nicht mehr zu sehen war, und von dem Gefühl seiner Einsamkeit ergriffen, wie es nur im trostlosen Winter ganz so heftig möglich ist? Erinnerte er sich nicht der Februarpredigten, die er einen Monat lang an des seligen Pfarrers Stelle abgelesen hatte, weil diesem die Kälte zu arg gewesen war, und der regelmäßigen Zuhörerin im Pfarrbetstuhl, die ohne Feuertöpfchen von Anfang bis Ende andächtig aushielt? Waren denn die Weihnachtskuchen zu vergessen, welche am heiligen Abend die einsame Küsterei mit Duft erfüllten, und die seine Vorgänger noch nicht gekannt hatten, die erst des polternden Herrn Pfarrers junge Gatttin einführte? Hatte es nicht zu Pfingsten, wenn Kanzel, Orgel und Altar bekränzt wurden, auch allemal für die Küsterei einen Kranz gegeben, der bis Martini über dem Kreidebilde hängen blieb und dem kaffeebraunen Hinterstübchen einen Festanstrich verlieh? Verschüttete der Küster nicht an einem Charfreitag einmal vom heiligen Wein, als er dem Herrn Pfarrer secundiren mußte und

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:58:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:58:19Z)

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Zitationshilfe: Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 203–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waldmueller_allein_1910/88>, abgerufen am 20.04.2024.