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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche Freundin, wollte
ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu bestimmen
lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu verlieren und meinen
ersten nächstliegenden Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin
gern bereit -- falls Sie es wünschen -- an Ihre Eltern zu
schreiben. Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen,
daß Sie im Laufe dieses Quartals gethan haben, was Sie thun
konnten, daß Sie Ihre Kräfte erschöpft, derart, daß eine rigurose
Beurtheilung Ihres Geschickes nicht nur ungerechtfertigt wäre,
sondern in erster Linie im höchsten Grade nachtheilig auf Ihren
geistigen und körperlichen Gesundheitszustand wirken könnte.

Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die
Flucht nicht ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen,
hat mich, offen gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein
Unglück noch so unverschuldet, man sollte sich nie und nimmer
zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen lassen. Die Art und Weise,
wie Sie mich, die ich Ihnen stets nur Gutes erwiesen, für einen
eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits verantwortlich machen
wollen, hat etwas, das in den Augen eines schlechtdenkenden
Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte.
Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens von Ihnen, der
Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber schuldet, zu
allerletzt gewärtig gewesen wäre. Indessen hege ich die feste
Ueberzeugung, daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des
ersten Schreckens standen, um sich Ihrer Handlungsweise voll-
kommen bewußt werden zu können.

Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine
Worte Sie bereits in gefaßterer Gemüthsstimmung antreffen.
Nehmen Sie die Sache, wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach
durchaus unzulässig, einen jungen Mann nach seinen Schulzeug-
nissen zu beurtheilen. Wir haben zu viele Beispiele, daß sehr
schlechte Schüler vorzügliche Menschen geworden, und umgekehrt
Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche Freundin, wollte
ich mich durch Ihre momentane Faſſungsloſigkeit dazu beſtimmen
laſſen, nun auch meinerſeits den Kopf zu verlieren und meinen
erſten nächſtliegenden Impulſen blindlings nachzugeben. Ich bin
gern bereit — falls Sie es wünſchen — an Ihre Eltern zu
ſchreiben. Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen ſuchen,
daß Sie im Laufe dieſes Quartals gethan haben, was Sie thun
konnten, daß Sie Ihre Kräfte erſchöpft, derart, daß eine riguroſe
Beurtheilung Ihres Geſchickes nicht nur ungerechtfertigt wäre,
ſondern in erſter Linie im höchſten Grade nachtheilig auf Ihren
geiſtigen und körperlichen Geſundheitszuſtand wirken könnte.

Daß Sie mir andeutungsweiſe drohen, im Fall Ihnen die
Flucht nicht ermöglicht wird, ſich das Leben nehmen zu wollen,
hat mich, offen geſagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein
Unglück noch ſo unverſchuldet, man ſollte ſich nie und nimmer
zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen laſſen. Die Art und Weiſe,
wie Sie mich, die ich Ihnen ſtets nur Gutes erwieſen, für einen
eventuellen entſetzlichen Frevel Ihrerſeits verantwortlich machen
wollen, hat etwas, das in den Augen eines ſchlechtdenkenden
Menſchen gar zu leicht zum Erpreſſungsverſuch werden könnte.
Ich muß geſtehen, daß ich mir dieſes Vorgehens von Ihnen, der
Sie doch ſonſt ſo gut wiſſen, was man ſich ſelber ſchuldet, zu
allerletzt gewärtig geweſen wäre. Indeſſen hege ich die feſte
Ueberzeugung, daß Sie noch zu ſehr unter dem Eindruck des
erſten Schreckens ſtanden, um ſich Ihrer Handlungsweiſe voll-
kommen bewußt werden zu können.

Und ſo hoffe ich denn auch zuverſichtlich, daß dieſe meine
Worte Sie bereits in gefaßterer Gemüthsſtimmung antreffen.
Nehmen Sie die Sache, wie ſie liegt. Es iſt meiner Anſicht nach
durchaus unzuläſſig, einen jungen Mann nach ſeinen Schulzeug-
niſſen zu beurtheilen. Wir haben zu viele Beiſpiele, daß ſehr
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[40/0056] Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche Freundin, wollte ich mich durch Ihre momentane Faſſungsloſigkeit dazu beſtimmen laſſen, nun auch meinerſeits den Kopf zu verlieren und meinen erſten nächſtliegenden Impulſen blindlings nachzugeben. Ich bin gern bereit — falls Sie es wünſchen — an Ihre Eltern zu ſchreiben. Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen ſuchen, daß Sie im Laufe dieſes Quartals gethan haben, was Sie thun konnten, daß Sie Ihre Kräfte erſchöpft, derart, daß eine riguroſe Beurtheilung Ihres Geſchickes nicht nur ungerechtfertigt wäre, ſondern in erſter Linie im höchſten Grade nachtheilig auf Ihren geiſtigen und körperlichen Geſundheitszuſtand wirken könnte. Daß Sie mir andeutungsweiſe drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht ermöglicht wird, ſich das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen geſagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein Unglück noch ſo unverſchuldet, man ſollte ſich nie und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen laſſen. Die Art und Weiſe, wie Sie mich, die ich Ihnen ſtets nur Gutes erwieſen, für einen eventuellen entſetzlichen Frevel Ihrerſeits verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen eines ſchlechtdenkenden Menſchen gar zu leicht zum Erpreſſungsverſuch werden könnte. Ich muß geſtehen, daß ich mir dieſes Vorgehens von Ihnen, der Sie doch ſonſt ſo gut wiſſen, was man ſich ſelber ſchuldet, zu allerletzt gewärtig geweſen wäre. Indeſſen hege ich die feſte Ueberzeugung, daß Sie noch zu ſehr unter dem Eindruck des erſten Schreckens ſtanden, um ſich Ihrer Handlungsweiſe voll- kommen bewußt werden zu können. Und ſo hoffe ich denn auch zuverſichtlich, daß dieſe meine Worte Sie bereits in gefaßterer Gemüthsſtimmung antreffen. Nehmen Sie die Sache, wie ſie liegt. Es iſt meiner Anſicht nach durchaus unzuläſſig, einen jungen Mann nach ſeinen Schulzeug- niſſen zu beurtheilen. Wir haben zu viele Beiſpiele, daß ſehr ſchlechte Schüler vorzügliche Menſchen geworden, und umgekehrt

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/56>, abgerufen am 19.04.2024.