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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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Aufstellungen eines Erklärungsprincips, aber keine Durch-
führungen
. Die Tragweite eines Princips lässt sich aber
erst erkennen, wenn seine Durchführung wirklich versucht
wird; erst dann treten die Schwierigkeiten hervor, und erst
dann erheben sich neue Fragestellungen von allen Seiten.
Aber auch der geniale Entwurf Darwin's konnte hierin
nicht genügen, weil er -- entsprechend dem Wissen der
Zeit, in welcher er entstand -- eine "ideale" Theorie
war, d. h. weil er auf Erklärungs-Principien gegründet war,
deren Realität zunächst gar nicht in Frage kam, weil es fürs
Erste sich nur darum handelte, die Gesammtmasse der Er-
scheinungen unter irgend einem gemeinsamen Gesichtspunkte
zusammenzufassen, irgend eine Erklärung für sie zu geben,
ohne Rücksicht darauf, ob sie richtig oder auch nur möglich
war. Die Bedeutung solcher Theorien liegt nach einer andern
Seite; zur Leitung der weiteren Forschung dienen sie aber aus
dem Grunde weniger, weil sie schon Alles erklären, sobald
man einmal das Princip zugiebt; sie bieten, so zu sagen, dem
Zweifel keinen Ansatzpunkt.

Wenn ich annehme, im Keim seien Millionen von "Anlagen"
der kleinsten Körpertheile enthalten und diese befänden sich
bei der Entwickelung eines Organismus stets in der richtigen
Zusammenstellung an demjenigen Ort, an welchem ein bestimmtes
Organ entstehen soll, so ist das zwar eine Erklärung, aber eine
solche, gegen die sich entweder Nichts oder Alles einwenden
lässt; neue Fragen aber gehen aus ihr erst dann hervor, wenn
sie sich vertieft, wenn sie den Beweis antritt, dass wirklich
vorgebildete "Anlagen" den Keim zusammensetzen müssen,
wenn sie versucht, die Mittel und Wege aufzuzeigen, durch
welche diese Anlagen in der erforderlichen Zusammenstellung
gerade an jene Stelle gelangen, an der sie nöthig sind, und in
welcher Weise sie dann zur Organbildung führen können.

Aufstellungen eines Erklärungsprincips, aber keine Durch-
führungen
. Die Tragweite eines Princips lässt sich aber
erst erkennen, wenn seine Durchführung wirklich versucht
wird; erst dann treten die Schwierigkeiten hervor, und erst
dann erheben sich neue Fragestellungen von allen Seiten.
Aber auch der geniale Entwurf Darwin’s konnte hierin
nicht genügen, weil er — entsprechend dem Wissen der
Zeit, in welcher er entstand — eine „ideale“ Theorie
war, d. h. weil er auf Erklärungs-Principien gegründet war,
deren Realität zunächst gar nicht in Frage kam, weil es fürs
Erste sich nur darum handelte, die Gesammtmasse der Er-
scheinungen unter irgend einem gemeinsamen Gesichtspunkte
zusammenzufassen, irgend eine Erklärung für sie zu geben,
ohne Rücksicht darauf, ob sie richtig oder auch nur möglich
war. Die Bedeutung solcher Theorien liegt nach einer andern
Seite; zur Leitung der weiteren Forschung dienen sie aber aus
dem Grunde weniger, weil sie schon Alles erklären, sobald
man einmal das Princip zugiebt; sie bieten, so zu sagen, dem
Zweifel keinen Ansatzpunkt.

Wenn ich annehme, im Keim seien Millionen von „Anlagen“
der kleinsten Körpertheile enthalten und diese befänden sich
bei der Entwickelung eines Organismus stets in der richtigen
Zusammenstellung an demjenigen Ort, an welchem ein bestimmtes
Organ entstehen soll, so ist das zwar eine Erklärung, aber eine
solche, gegen die sich entweder Nichts oder Alles einwenden
lässt; neue Fragen aber gehen aus ihr erst dann hervor, wenn
sie sich vertieft, wenn sie den Beweis antritt, dass wirklich
vorgebildete „Anlagen“ den Keim zusammensetzen müssen,
wenn sie versucht, die Mittel und Wege aufzuzeigen, durch
welche diese Anlagen in der erforderlichen Zusammenstellung
gerade an jene Stelle gelangen, an der sie nöthig sind, und in
welcher Weise sie dann zur Organbildung führen können.

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[X/0016] Aufstellungen eines Erklärungsprincips, aber keine Durch- führungen. Die Tragweite eines Princips lässt sich aber erst erkennen, wenn seine Durchführung wirklich versucht wird; erst dann treten die Schwierigkeiten hervor, und erst dann erheben sich neue Fragestellungen von allen Seiten. Aber auch der geniale Entwurf Darwin’s konnte hierin nicht genügen, weil er — entsprechend dem Wissen der Zeit, in welcher er entstand — eine „ideale“ Theorie war, d. h. weil er auf Erklärungs-Principien gegründet war, deren Realität zunächst gar nicht in Frage kam, weil es fürs Erste sich nur darum handelte, die Gesammtmasse der Er- scheinungen unter irgend einem gemeinsamen Gesichtspunkte zusammenzufassen, irgend eine Erklärung für sie zu geben, ohne Rücksicht darauf, ob sie richtig oder auch nur möglich war. Die Bedeutung solcher Theorien liegt nach einer andern Seite; zur Leitung der weiteren Forschung dienen sie aber aus dem Grunde weniger, weil sie schon Alles erklären, sobald man einmal das Princip zugiebt; sie bieten, so zu sagen, dem Zweifel keinen Ansatzpunkt. Wenn ich annehme, im Keim seien Millionen von „Anlagen“ der kleinsten Körpertheile enthalten und diese befänden sich bei der Entwickelung eines Organismus stets in der richtigen Zusammenstellung an demjenigen Ort, an welchem ein bestimmtes Organ entstehen soll, so ist das zwar eine Erklärung, aber eine solche, gegen die sich entweder Nichts oder Alles einwenden lässt; neue Fragen aber gehen aus ihr erst dann hervor, wenn sie sich vertieft, wenn sie den Beweis antritt, dass wirklich vorgebildete „Anlagen“ den Keim zusammensetzen müssen, wenn sie versucht, die Mittel und Wege aufzuzeigen, durch welche diese Anlagen in der erforderlichen Zusammenstellung gerade an jene Stelle gelangen, an der sie nöthig sind, und in welcher Weise sie dann zur Organbildung führen können.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/16>, abgerufen am 29.03.2024.