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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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Beide Wege zur Erklärung der behaupteten Vererbung
somatogener Abänderungen sind betreten worden, der erste
freilich nur in unbestimmten Andeutungen, indem auf "Nerven-
Einflüsse" hingewiesen wurde, welche von dem abgeänderten
Theile ausgehen und die Vererbungssubstanz der Keimzellen
"umstimmen" soll. Wie freilich Nerven-Erregung im Stande
sein soll, das Keimplasma materiell zu verändern und zwar
adäquat der somatogenen Veränderung, das hat noch Niemand
genauer anzudeuten gewagt. Aber auch die Frage, wieso denn
ein Theil, z. B. ein durch funktionelle Hypertrophie vergrösserter
Muskel, eine specifische, auf "Vergrösserung" signirte Nerven-
strömung zu veranlassen im Stande sei, dürfte wohl vergeblich
einer Antwort harren. Man müsste sich geradezu vorstellen, dass
jede Zelle des ganzen Körpers durch ungezählte Nervenbahnen
mit jeder Keimzelle des Ovarium's oder des Spermarium's in
Verbindung stünde und unausgesetzt diesen Zellen Nachricht
zukommen liesse darüber, was in ihnen vorgeht, ob sie so oder
anders beeinflusst werden, und zugleich Befehl gäben, das Keim-
plasma habe sich in diesem oder jenem seiner Millionen von
Einheiten so oder anders zu verhalten. Ich glaube nicht, dass
man im Stande wäre, solchen Abenteuerlichkeiten auszuweichen,
und halte den ganzen Gedanken für durchaus unannehmbar.

Aber auch der zweite mögliche Erklärungsversuch scheint
heute noch weit weniger zulässig, als zur Zeit, da ihn Darwin
in Form seiner Pangenesis-Hypothese aufstellte. Ich glaube
auch nicht -- wie ich schon in früheren Schriften aussprach
-- dass der geniale Urheber dieser Vererbungs-Hypothese die-
selbe als eine der Wirklichkeit entsprechende Annahme be-
trachtete, vielmehr nur als ein provisorisches Auskunfsmittel,
welches zu besserer Einsicht hinleiten sollte. Seither hat sich
Manches geändert, wir haben Thatsachen erfahren, die den Ge-
danken einer "Keimchen-Cirkulation" geradezu abzuweisen ge-

Beide Wege zur Erklärung der behaupteten Vererbung
somatogener Abänderungen sind betreten worden, der erste
freilich nur in unbestimmten Andeutungen, indem auf „Nerven-
Einflüsse“ hingewiesen wurde, welche von dem abgeänderten
Theile ausgehen und die Vererbungssubstanz der Keimzellen
„umstimmen“ soll. Wie freilich Nerven-Erregung im Stande
sein soll, das Keimplasma materiell zu verändern und zwar
adäquat der somatogenen Veränderung, das hat noch Niemand
genauer anzudeuten gewagt. Aber auch die Frage, wieso denn
ein Theil, z. B. ein durch funktionelle Hypertrophie vergrösserter
Muskel, eine specifische, auf „Vergrösserung“ signirte Nerven-
strömung zu veranlassen im Stande sei, dürfte wohl vergeblich
einer Antwort harren. Man müsste sich geradezu vorstellen, dass
jede Zelle des ganzen Körpers durch ungezählte Nervenbahnen
mit jeder Keimzelle des Ovarium’s oder des Spermarium’s in
Verbindung stünde und unausgesetzt diesen Zellen Nachricht
zukommen liesse darüber, was in ihnen vorgeht, ob sie so oder
anders beeinflusst werden, und zugleich Befehl gäben, das Keim-
plasma habe sich in diesem oder jenem seiner Millionen von
Einheiten so oder anders zu verhalten. Ich glaube nicht, dass
man im Stande wäre, solchen Abenteuerlichkeiten auszuweichen,
und halte den ganzen Gedanken für durchaus unannehmbar.

Aber auch der zweite mögliche Erklärungsversuch scheint
heute noch weit weniger zulässig, als zur Zeit, da ihn Darwin
in Form seiner Pangenesis-Hypothese aufstellte. Ich glaube
auch nicht — wie ich schon in früheren Schriften aussprach
— dass der geniale Urheber dieser Vererbungs-Hypothese die-
selbe als eine der Wirklichkeit entsprechende Annahme be-
trachtete, vielmehr nur als ein provisorisches Auskunfsmittel,
welches zu besserer Einsicht hinleiten sollte. Seither hat sich
Manches geändert, wir haben Thatsachen erfahren, die den Ge-
danken einer „Keimchen-Cirkulation“ geradezu abzuweisen ge-

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[516/0540] Beide Wege zur Erklärung der behaupteten Vererbung somatogener Abänderungen sind betreten worden, der erste freilich nur in unbestimmten Andeutungen, indem auf „Nerven- Einflüsse“ hingewiesen wurde, welche von dem abgeänderten Theile ausgehen und die Vererbungssubstanz der Keimzellen „umstimmen“ soll. Wie freilich Nerven-Erregung im Stande sein soll, das Keimplasma materiell zu verändern und zwar adäquat der somatogenen Veränderung, das hat noch Niemand genauer anzudeuten gewagt. Aber auch die Frage, wieso denn ein Theil, z. B. ein durch funktionelle Hypertrophie vergrösserter Muskel, eine specifische, auf „Vergrösserung“ signirte Nerven- strömung zu veranlassen im Stande sei, dürfte wohl vergeblich einer Antwort harren. Man müsste sich geradezu vorstellen, dass jede Zelle des ganzen Körpers durch ungezählte Nervenbahnen mit jeder Keimzelle des Ovarium’s oder des Spermarium’s in Verbindung stünde und unausgesetzt diesen Zellen Nachricht zukommen liesse darüber, was in ihnen vorgeht, ob sie so oder anders beeinflusst werden, und zugleich Befehl gäben, das Keim- plasma habe sich in diesem oder jenem seiner Millionen von Einheiten so oder anders zu verhalten. Ich glaube nicht, dass man im Stande wäre, solchen Abenteuerlichkeiten auszuweichen, und halte den ganzen Gedanken für durchaus unannehmbar. Aber auch der zweite mögliche Erklärungsversuch scheint heute noch weit weniger zulässig, als zur Zeit, da ihn Darwin in Form seiner Pangenesis-Hypothese aufstellte. Ich glaube auch nicht — wie ich schon in früheren Schriften aussprach — dass der geniale Urheber dieser Vererbungs-Hypothese die- selbe als eine der Wirklichkeit entsprechende Annahme be- trachtete, vielmehr nur als ein provisorisches Auskunfsmittel, welches zu besserer Einsicht hinleiten sollte. Seither hat sich Manches geändert, wir haben Thatsachen erfahren, die den Ge- danken einer „Keimchen-Cirkulation“ geradezu abzuweisen ge-

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/540>, abgerufen am 23.04.2024.