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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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Capitel XIV.
Variation.

Vererbung ist die Übertragung der physischen Natur des
Elters auf das Kind. Wir sehen, dass diese Übertragung sich
auf den ganzen Organismus bezieht und bis in die kleinsten
Einzelheiten hineinreicht, wir wissen aber auch, dass dieselbe
niemals eine vollständige ist, dass das Kind nie identisch ist
mit dem Elter, sondern sich immer von demselben mehr oder
weniger stark unterscheidet. Diese Abweichungen bilden die
Erscheinung der Variation, welche somit ein integriren-
der Theil der Vererbung ist, denn jede Vererbung
schliesst Variation in sich ein
.

Es gehört somit in eine Theorie der Vererbung auch eine
theoretische Begründung der Variation, wie sie jetzt versucht
werden soll. Woher kommt es, dass das Kind niemals eine
genaue Copie des Elters ist, auch dann nicht, wenn nur ein
Elter vorhanden ist, also bei parthenogenetischer und Knospen-
Fortpflanzung? und welches ist die Wurzel jener nie fehlenden
"individuellen Variationen", welche wir nach dem Vorgang
von Darwin und Wallace als die Grundlage aller Züchtungs-
processe der Natur, und als das Material betrachten, durch dessen
Hülfe die ganze reiche Entfaltung organischer Lebensformen ver-
schiedenster Art auf der Erde möglich war?

Darwin selbst machte die Verschiedenheit äusserer Ein-
wirkungen für die Abweichung des Kindes vom Elter verant-
wortlich, und ich war im Wesentlichen derselben Meinung, wenn
ich seiner Zeit1) "alle Ungleichheit der Organismen" darauf
zurückführte, "dass im Laufe der Entwickelung der organischen
Natur ungleiche äussere Einflüsse die einzelnen Individuen ge-

1) "Studien zur Descendenztheorie" II, p. 304, Leipzig 1876.
Capitel XIV.
Variation.

Vererbung ist die Übertragung der physischen Natur des
Elters auf das Kind. Wir sehen, dass diese Übertragung sich
auf den ganzen Organismus bezieht und bis in die kleinsten
Einzelheiten hineinreicht, wir wissen aber auch, dass dieselbe
niemals eine vollständige ist, dass das Kind nie identisch ist
mit dem Elter, sondern sich immer von demselben mehr oder
weniger stark unterscheidet. Diese Abweichungen bilden die
Erscheinung der Variation, welche somit ein integriren-
der Theil der Vererbung ist, denn jede Vererbung
schliesst Variation in sich ein
.

Es gehört somit in eine Theorie der Vererbung auch eine
theoretische Begründung der Variation, wie sie jetzt versucht
werden soll. Woher kommt es, dass das Kind niemals eine
genaue Copie des Elters ist, auch dann nicht, wenn nur ein
Elter vorhanden ist, also bei parthenogenetischer und Knospen-
Fortpflanzung? und welches ist die Wurzel jener nie fehlenden
individuellen Variationen“, welche wir nach dem Vorgang
von Darwin und Wallace als die Grundlage aller Züchtungs-
processe der Natur, und als das Material betrachten, durch dessen
Hülfe die ganze reiche Entfaltung organischer Lebensformen ver-
schiedenster Art auf der Erde möglich war?

Darwin selbst machte die Verschiedenheit äusserer Ein-
wirkungen für die Abweichung des Kindes vom Elter verant-
wortlich, und ich war im Wesentlichen derselben Meinung, wenn
ich seiner Zeit1) „alle Ungleichheit der Organismen“ darauf
zurückführte, „dass im Laufe der Entwickelung der organischen
Natur ungleiche äussere Einflüsse die einzelnen Individuen ge-

1) „Studien zur Descendenztheorie“ II, p. 304, Leipzig 1876.
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[537/0561] Capitel XIV. Variation. Vererbung ist die Übertragung der physischen Natur des Elters auf das Kind. Wir sehen, dass diese Übertragung sich auf den ganzen Organismus bezieht und bis in die kleinsten Einzelheiten hineinreicht, wir wissen aber auch, dass dieselbe niemals eine vollständige ist, dass das Kind nie identisch ist mit dem Elter, sondern sich immer von demselben mehr oder weniger stark unterscheidet. Diese Abweichungen bilden die Erscheinung der Variation, welche somit ein integriren- der Theil der Vererbung ist, denn jede Vererbung schliesst Variation in sich ein. Es gehört somit in eine Theorie der Vererbung auch eine theoretische Begründung der Variation, wie sie jetzt versucht werden soll. Woher kommt es, dass das Kind niemals eine genaue Copie des Elters ist, auch dann nicht, wenn nur ein Elter vorhanden ist, also bei parthenogenetischer und Knospen- Fortpflanzung? und welches ist die Wurzel jener nie fehlenden „individuellen Variationen“, welche wir nach dem Vorgang von Darwin und Wallace als die Grundlage aller Züchtungs- processe der Natur, und als das Material betrachten, durch dessen Hülfe die ganze reiche Entfaltung organischer Lebensformen ver- schiedenster Art auf der Erde möglich war? Darwin selbst machte die Verschiedenheit äusserer Ein- wirkungen für die Abweichung des Kindes vom Elter verant- wortlich, und ich war im Wesentlichen derselben Meinung, wenn ich seiner Zeit 1) „alle Ungleichheit der Organismen“ darauf zurückführte, „dass im Laufe der Entwickelung der organischen Natur ungleiche äussere Einflüsse die einzelnen Individuen ge- 1) „Studien zur Descendenztheorie“ II, p. 304, Leipzig 1876.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/561>, abgerufen am 25.04.2024.