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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, erstes Capitel.
weiter, als dieser Stimme der Natur zu folgen, welche
bald durch den süssen Zug des Vergnügens, bald durch
das ungedultige Fodern des Bedürfnisses, bald durch
das ängstliche Pochen des Schmerzens es zu demjenigen
loket, was ihm zuträglich ist, oder es zur Erhaltung
seines Lebens und seiner Gattung auffordert, oder es
vor demjenigen warnet, was seinem Wesen die Zerstö-
rung dräuet. Sollte der Mensch allein von dieser müt-
terlichen Vorsorge ausgenommen seyn, oder er allein
irren können, wenn er der Stimme folget, die zu allen
Wesen redet? Oder ist nicht vielmehr die Unachtsam-
keit und der Ungehorsam gegen ihre Erinnerungen die
einzige wahre Ursache, warum unter einer unendlichen
Menge von lebenden Wesen der Mensch das einzige Un-
glükselige ist?

Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse
Einfalt eingedrükt, die ihre mühsamen Anstalten und
eine genaue Regelmäßigkeit unter einem Schein von
Leichtigkeit und ungezwungner Anmuth verbirgt. Mit
diesem Stempel sind auch die Geseze der Glükseligkeit be-
zeichnet, die sie dem Menschen vorgeschrieben hat. Sie
sind einfältig, leicht auszuüben, und führen gerade und
sicher zum Zwek. Die Kunst glüklich zu leben, würde
die gemeinste unter allen Künsten seyn, wie sie die
leichteste ist, wenn die Menschen nicht gewohnt wären
sich einzubilden, daß man große Absichten nicht anders,
als durch große Anstalten erreichen könne. Es scheint
ihnen zu einfältig, daß alles was ihnen die Natur durch

den
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Drittes Buch, erſtes Capitel.
weiter, als dieſer Stimme der Natur zu folgen, welche
bald durch den ſuͤſſen Zug des Vergnuͤgens, bald durch
das ungedultige Fodern des Beduͤrfniſſes, bald durch
das aͤngſtliche Pochen des Schmerzens es zu demjenigen
loket, was ihm zutraͤglich iſt, oder es zur Erhaltung
ſeines Lebens und ſeiner Gattung auffordert, oder es
vor demjenigen warnet, was ſeinem Weſen die Zerſtoͤ-
rung draͤuet. Sollte der Menſch allein von dieſer muͤt-
terlichen Vorſorge ausgenommen ſeyn, oder er allein
irren koͤnnen, wenn er der Stimme folget, die zu allen
Weſen redet? Oder iſt nicht vielmehr die Unachtſam-
keit und der Ungehorſam gegen ihre Erinnerungen die
einzige wahre Urſache, warum unter einer unendlichen
Menge von lebenden Weſen der Menſch das einzige Un-
gluͤkſelige iſt?

Die Natur hat allen ihren Werken eine gewiſſe
Einfalt eingedruͤkt, die ihre muͤhſamen Anſtalten und
eine genaue Regelmaͤßigkeit unter einem Schein von
Leichtigkeit und ungezwungner Anmuth verbirgt. Mit
dieſem Stempel ſind auch die Geſeze der Gluͤkſeligkeit be-
zeichnet, die ſie dem Menſchen vorgeſchrieben hat. Sie
ſind einfaͤltig, leicht auszuuͤben, und fuͤhren gerade und
ſicher zum Zwek. Die Kunſt gluͤklich zu leben, wuͤrde
die gemeinſte unter allen Kuͤnſten ſeyn, wie ſie die
leichteſte iſt, wenn die Menſchen nicht gewohnt waͤren
ſich einzubilden, daß man große Abſichten nicht anders,
als durch große Anſtalten erreichen koͤnne. Es ſcheint
ihnen zu einfaͤltig, daß alles was ihnen die Natur durch

den
F 2
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[83/0105] Drittes Buch, erſtes Capitel. weiter, als dieſer Stimme der Natur zu folgen, welche bald durch den ſuͤſſen Zug des Vergnuͤgens, bald durch das ungedultige Fodern des Beduͤrfniſſes, bald durch das aͤngſtliche Pochen des Schmerzens es zu demjenigen loket, was ihm zutraͤglich iſt, oder es zur Erhaltung ſeines Lebens und ſeiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was ſeinem Weſen die Zerſtoͤ- rung draͤuet. Sollte der Menſch allein von dieſer muͤt- terlichen Vorſorge ausgenommen ſeyn, oder er allein irren koͤnnen, wenn er der Stimme folget, die zu allen Weſen redet? Oder iſt nicht vielmehr die Unachtſam- keit und der Ungehorſam gegen ihre Erinnerungen die einzige wahre Urſache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Weſen der Menſch das einzige Un- gluͤkſelige iſt? Die Natur hat allen ihren Werken eine gewiſſe Einfalt eingedruͤkt, die ihre muͤhſamen Anſtalten und eine genaue Regelmaͤßigkeit unter einem Schein von Leichtigkeit und ungezwungner Anmuth verbirgt. Mit dieſem Stempel ſind auch die Geſeze der Gluͤkſeligkeit be- zeichnet, die ſie dem Menſchen vorgeſchrieben hat. Sie ſind einfaͤltig, leicht auszuuͤben, und fuͤhren gerade und ſicher zum Zwek. Die Kunſt gluͤklich zu leben, wuͤrde die gemeinſte unter allen Kuͤnſten ſeyn, wie ſie die leichteſte iſt, wenn die Menſchen nicht gewohnt waͤren ſich einzubilden, daß man große Abſichten nicht anders, als durch große Anſtalten erreichen koͤnne. Es ſcheint ihnen zu einfaͤltig, daß alles was ihnen die Natur durch den F 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/105>, abgerufen am 28.03.2024.