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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, fünftes Capitel.
schiedne Nationen unter verschiednen Himmelsstrichen
giebt; was ist gewisser, als daß ein jeder den Vorzug
seiner Geliebten vor den übrigen behaupten wird? Der
Europäer wird die blendende weisse, der Mohr die ra-
bengleiche Schwärze der seinigen vorziehen; der Grie-
che wird einen kleinen Mund, eine Brust, die mit der
holen Hand bedekt werden kann, und das angenehme
Ebenmaaß einer feinen Gestalt; der Africaner wird die
eingedrükte Nase, und die aufgeschwollnen dikrothen Lip-
pen; der Persianer die großen Augen und den schlan-
ken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen, die Kegel-
runde dike und winzigen Füsse an der seinigen be-
gaubernd finden. Hat es mit dem Schönen in sittli-
chen Verstande, mit dem was sich geziemt, eine andre
Bewandtniß? Die Spartanischen Töchter scheuen sich
nicht, in einem Aufzug gesehen zu werden, wodurch in
Athen die geringste öffentliche Meze sich entehrt hielte.
Jn Persien würd' ein Frauenzimmer, das an einem
öffentlichen Orte sein Gesicht entblößte, eben so ange-
sehen, als in Smyrna eine die sich nakend sehen liesse.
Bey den morgenländischen Völkern erfodert der Wohl-
stand eine Menge von Beugungen und unterthänigen
Gebehrden, die man gegen diejenigen macht, die man
ehren will; bey den Griechen würde diese Höflichkeit
für eben so schändlich und sclavenmäßig gehalten wer-
den, als die attische Politesse zu Persepolis grob und
bäurisch scheinen würde. Bey den Griechen hat eine
freygeborne ihre Ehre verlohren, die sich den jungfräu-
lichen Gürtel von einem andern, als ihrem Manne

auflösen

Drittes Buch, fuͤnftes Capitel.
ſchiedne Nationen unter verſchiednen Himmelsſtrichen
giebt; was iſt gewiſſer, als daß ein jeder den Vorzug
ſeiner Geliebten vor den uͤbrigen behaupten wird? Der
Europaͤer wird die blendende weiſſe, der Mohr die ra-
bengleiche Schwaͤrze der ſeinigen vorziehen; der Grie-
che wird einen kleinen Mund, eine Bruſt, die mit der
holen Hand bedekt werden kann, und das angenehme
Ebenmaaß einer feinen Geſtalt; der Africaner wird die
eingedruͤkte Naſe, und die aufgeſchwollnen dikrothen Lip-
pen; der Perſianer die großen Augen und den ſchlan-
ken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen, die Kegel-
runde dike und winzigen Fuͤſſe an der ſeinigen be-
gaubernd finden. Hat es mit dem Schoͤnen in ſittli-
chen Verſtande, mit dem was ſich geziemt, eine andre
Bewandtniß? Die Spartaniſchen Toͤchter ſcheuen ſich
nicht, in einem Aufzug geſehen zu werden, wodurch in
Athen die geringſte oͤffentliche Meze ſich entehrt hielte.
Jn Perſien wuͤrd’ ein Frauenzimmer, das an einem
oͤffentlichen Orte ſein Geſicht entbloͤßte, eben ſo ange-
ſehen, als in Smyrna eine die ſich nakend ſehen lieſſe.
Bey den morgenlaͤndiſchen Voͤlkern erfodert der Wohl-
ſtand eine Menge von Beugungen und unterthaͤnigen
Gebehrden, die man gegen diejenigen macht, die man
ehren will; bey den Griechen wuͤrde dieſe Hoͤflichkeit
fuͤr eben ſo ſchaͤndlich und ſclavenmaͤßig gehalten wer-
den, als die attiſche Politeſſe zu Perſepolis grob und
baͤuriſch ſcheinen wuͤrde. Bey den Griechen hat eine
freygeborne ihre Ehre verlohren, die ſich den jungfraͤu-
lichen Guͤrtel von einem andern, als ihrem Manne

aufloͤſen
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[111/0133] Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. ſchiedne Nationen unter verſchiednen Himmelsſtrichen giebt; was iſt gewiſſer, als daß ein jeder den Vorzug ſeiner Geliebten vor den uͤbrigen behaupten wird? Der Europaͤer wird die blendende weiſſe, der Mohr die ra- bengleiche Schwaͤrze der ſeinigen vorziehen; der Grie- che wird einen kleinen Mund, eine Bruſt, die mit der holen Hand bedekt werden kann, und das angenehme Ebenmaaß einer feinen Geſtalt; der Africaner wird die eingedruͤkte Naſe, und die aufgeſchwollnen dikrothen Lip- pen; der Perſianer die großen Augen und den ſchlan- ken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen, die Kegel- runde dike und winzigen Fuͤſſe an der ſeinigen be- gaubernd finden. Hat es mit dem Schoͤnen in ſittli- chen Verſtande, mit dem was ſich geziemt, eine andre Bewandtniß? Die Spartaniſchen Toͤchter ſcheuen ſich nicht, in einem Aufzug geſehen zu werden, wodurch in Athen die geringſte oͤffentliche Meze ſich entehrt hielte. Jn Perſien wuͤrd’ ein Frauenzimmer, das an einem oͤffentlichen Orte ſein Geſicht entbloͤßte, eben ſo ange- ſehen, als in Smyrna eine die ſich nakend ſehen lieſſe. Bey den morgenlaͤndiſchen Voͤlkern erfodert der Wohl- ſtand eine Menge von Beugungen und unterthaͤnigen Gebehrden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bey den Griechen wuͤrde dieſe Hoͤflichkeit fuͤr eben ſo ſchaͤndlich und ſclavenmaͤßig gehalten wer- den, als die attiſche Politeſſe zu Perſepolis grob und baͤuriſch ſcheinen wuͤrde. Bey den Griechen hat eine freygeborne ihre Ehre verlohren, die ſich den jungfraͤu- lichen Guͤrtel von einem andern, als ihrem Manne aufloͤſen

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/133>, abgerufen am 23.04.2024.