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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Fünftes Buch, zehentes Capitel.
benden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den
Göttern an Wonne gleich zu seyn, nichts als ihre
Liebe: Sie verschmähten izt alle diese Lustbarkeiten, an de-
nen sie vorher so viel Geschmak gefunden hatten; ihre
Liebe machte alle ihre Beschäftigungen und alle ihre Er-
gözungen aus: Sie empfanden nichts anders, sie
dachten an nichts anders, sie unterhielten sich mit nichts
anderm; und doch schienen sie sich immer zum erstenmal
zu sehen, zum erstenmal zu umarmen, zum erstenmal
einander zu sagen, daß sie sich liebten; und wenn sie
von einer Morgenröthe zur andern nichts anders ge-
than hatten, so beklagten sie sich doch über die Karg-
heit der Zeit, welche zu einem Leben, das sie zum
Besten ihrer Liebe unsterblich gewünscht hätten, ihnen
Augenblike für Tage anrechne. Welch ein Zustand,
wenn er dauern könnte! -- ruft hier der griecht-
sche Autor aus.

Eilftes Capitel.
Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe,
oder von der Seelenmischung.

Ein alter Schriftsteller, den gewiß niemand beschul-
digen wird, daß er die Liebe zu metaphysisch behandelt
habe, und den wir nur zu nennen brauchen, um al-
len Verdacht dessen, was materielle Seelen für Plato-
nische Grillen erklären, von ihm zu entfernen; mit

einem
O 4

Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel.
benden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den
Goͤttern an Wonne gleich zu ſeyn, nichts als ihre
Liebe: Sie verſchmaͤhten izt alle dieſe Luſtbarkeiten, an de-
nen ſie vorher ſo viel Geſchmak gefunden hatten; ihre
Liebe machte alle ihre Beſchaͤftigungen und alle ihre Er-
goͤzungen aus: Sie empfanden nichts anders, ſie
dachten an nichts anders, ſie unterhielten ſich mit nichts
anderm; und doch ſchienen ſie ſich immer zum erſtenmal
zu ſehen, zum erſtenmal zu umarmen, zum erſtenmal
einander zu ſagen, daß ſie ſich liebten; und wenn ſie
von einer Morgenroͤthe zur andern nichts anders ge-
than hatten, ſo beklagten ſie ſich doch uͤber die Karg-
heit der Zeit, welche zu einem Leben, das ſie zum
Beſten ihrer Liebe unſterblich gewuͤnſcht haͤtten, ihnen
Augenblike fuͤr Tage anrechne. Welch ein Zuſtand,
wenn er dauern koͤnnte! — ruft hier der griecht-
ſche Autor aus.

Eilftes Capitel.
Eine bemerkenswuͤrdige Wuͤrkung der Liebe,
oder von der Seelenmiſchung.

Ein alter Schriftſteller, den gewiß niemand beſchul-
digen wird, daß er die Liebe zu metaphyſiſch behandelt
habe, und den wir nur zu nennen brauchen, um al-
len Verdacht deſſen, was materielle Seelen fuͤr Plato-
niſche Grillen erklaͤren, von ihm zu entfernen; mit

einem
O 4
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[215/0237] Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel. benden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den Goͤttern an Wonne gleich zu ſeyn, nichts als ihre Liebe: Sie verſchmaͤhten izt alle dieſe Luſtbarkeiten, an de- nen ſie vorher ſo viel Geſchmak gefunden hatten; ihre Liebe machte alle ihre Beſchaͤftigungen und alle ihre Er- goͤzungen aus: Sie empfanden nichts anders, ſie dachten an nichts anders, ſie unterhielten ſich mit nichts anderm; und doch ſchienen ſie ſich immer zum erſtenmal zu ſehen, zum erſtenmal zu umarmen, zum erſtenmal einander zu ſagen, daß ſie ſich liebten; und wenn ſie von einer Morgenroͤthe zur andern nichts anders ge- than hatten, ſo beklagten ſie ſich doch uͤber die Karg- heit der Zeit, welche zu einem Leben, das ſie zum Beſten ihrer Liebe unſterblich gewuͤnſcht haͤtten, ihnen Augenblike fuͤr Tage anrechne. Welch ein Zuſtand, wenn er dauern koͤnnte! — ruft hier der griecht- ſche Autor aus. Eilftes Capitel. Eine bemerkenswuͤrdige Wuͤrkung der Liebe, oder von der Seelenmiſchung. Ein alter Schriftſteller, den gewiß niemand beſchul- digen wird, daß er die Liebe zu metaphyſiſch behandelt habe, und den wir nur zu nennen brauchen, um al- len Verdacht deſſen, was materielle Seelen fuͤr Plato- niſche Grillen erklaͤren, von ihm zu entfernen; mit einem O 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/237>, abgerufen am 28.03.2024.