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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Milternacht vom Einschlummern abzuhalten suchte.
Die Tänzerin, ein schönes Mädchen, welches ungeach-
tet seiner Jugend, schon lange in den Geheimnissen
von Cythere eingeweyht war, tanzte die Fabel der
Leda. Dieses berüchtigte Meisterstük der eben so voll-
kommnen als üppigen Tanzkunst der alten, von dessen
Würkungen Juvenal in einer von seinen Satyren ein
so zügelloses Gemählde macht. Hippias und die mei-
sten seiner Gäste bezeugten ein unmäßiges Vergnügen
über die Art, wie seine Tänzerin diese schlüpfrige Geschichte
nach der wollüstigen Modulation zwoer Flöten, allein durch
die stumme Sprache der Bewegung, von Scene zu
Scene biß zur Entwiklung fortzuwinden wußte. --
Zeuxes, und Homer selbst, rieffen sie, konnte nicht
besser, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als
die Tänzerin durch ihre Bewegungen mahlen. Die
Damen glaubten genug gethan zu haben, daß sie auf
dieses Schauspiel nicht Acht zu geben schienen; aber
Agathon konnte den widrigen Eindruk, den es auf
ihn machte, und den innerlicher Grauen, womit sein
Gemüth dabey erfüllt wurde, kaum in sich selbst ver-
schliessen. Er wollte würklich etwas sagen, welches
allerdings in der Gesellschaft, worinn er war, übel
angebracht gewesen wäre; als ein beschämter Blik auf
sich selbst, und vielleicht die Furcht belacht zu werden,
und den ausgelassenen Hippias zu einer allzuscharfen
Rache zu reizen, seine Rede auf seinen Lippen erstikte;
und weil doch die ersten Worte nun einmal gesagt waren,
den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen Beyfall

ver-

Agathon.
Milternacht vom Einſchlummern abzuhalten ſuchte.
Die Taͤnzerin, ein ſchoͤnes Maͤdchen, welches ungeach-
tet ſeiner Jugend, ſchon lange in den Geheimniſſen
von Cythere eingeweyht war, tanzte die Fabel der
Leda. Dieſes beruͤchtigte Meiſterſtuͤk der eben ſo voll-
kommnen als uͤppigen Tanzkunſt der alten, von deſſen
Wuͤrkungen Juvenal in einer von ſeinen Satyren ein
ſo zuͤgelloſes Gemaͤhlde macht. Hippias und die mei-
ſten ſeiner Gaͤſte bezeugten ein unmaͤßiges Vergnuͤgen
uͤber die Art, wie ſeine Taͤnzerin dieſe ſchluͤpfrige Geſchichte
nach der wolluͤſtigen Modulation zwoer Floͤten, allein durch
die ſtumme Sprache der Bewegung, von Scene zu
Scene biß zur Entwiklung fortzuwinden wußte. —
Zeuxes, und Homer ſelbſt, rieffen ſie, konnte nicht
beſſer, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als
die Taͤnzerin durch ihre Bewegungen mahlen. Die
Damen glaubten genug gethan zu haben, daß ſie auf
dieſes Schauſpiel nicht Acht zu geben ſchienen; aber
Agathon konnte den widrigen Eindruk, den es auf
ihn machte, und den innerlicher Grauen, womit ſein
Gemuͤth dabey erfuͤllt wurde, kaum in ſich ſelbſt ver-
ſchlieſſen. Er wollte wuͤrklich etwas ſagen, welches
allerdings in der Geſellſchaft, worinn er war, uͤbel
angebracht geweſen waͤre; als ein beſchaͤmter Blik auf
ſich ſelbſt, und vielleicht die Furcht belacht zu werden,
und den ausgelaſſenen Hippias zu einer allzuſcharfen
Rache zu reizen, ſeine Rede auf ſeinen Lippen erſtikte;
und weil doch die erſten Worte nun einmal geſagt waren,
den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen Beyfall

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[240/0262] Agathon. Milternacht vom Einſchlummern abzuhalten ſuchte. Die Taͤnzerin, ein ſchoͤnes Maͤdchen, welches ungeach- tet ſeiner Jugend, ſchon lange in den Geheimniſſen von Cythere eingeweyht war, tanzte die Fabel der Leda. Dieſes beruͤchtigte Meiſterſtuͤk der eben ſo voll- kommnen als uͤppigen Tanzkunſt der alten, von deſſen Wuͤrkungen Juvenal in einer von ſeinen Satyren ein ſo zuͤgelloſes Gemaͤhlde macht. Hippias und die mei- ſten ſeiner Gaͤſte bezeugten ein unmaͤßiges Vergnuͤgen uͤber die Art, wie ſeine Taͤnzerin dieſe ſchluͤpfrige Geſchichte nach der wolluͤſtigen Modulation zwoer Floͤten, allein durch die ſtumme Sprache der Bewegung, von Scene zu Scene biß zur Entwiklung fortzuwinden wußte. — Zeuxes, und Homer ſelbſt, rieffen ſie, konnte nicht beſſer, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als die Taͤnzerin durch ihre Bewegungen mahlen. Die Damen glaubten genug gethan zu haben, daß ſie auf dieſes Schauſpiel nicht Acht zu geben ſchienen; aber Agathon konnte den widrigen Eindruk, den es auf ihn machte, und den innerlicher Grauen, womit ſein Gemuͤth dabey erfuͤllt wurde, kaum in ſich ſelbſt ver- ſchlieſſen. Er wollte wuͤrklich etwas ſagen, welches allerdings in der Geſellſchaft, worinn er war, uͤbel angebracht geweſen waͤre; als ein beſchaͤmter Blik auf ſich ſelbſt, und vielleicht die Furcht belacht zu werden, und den ausgelaſſenen Hippias zu einer allzuſcharfen Rache zu reizen, ſeine Rede auf ſeinen Lippen erſtikte; und weil doch die erſten Worte nun einmal geſagt waren, den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen Beyfall ver-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/262>, abgerufen am 28.03.2024.