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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, viertes Capitel.
einem vollern Maasse gelangt sind als wir. Jndessen
haben wir uns doch zum Gesez gemacht, den guten Rath
unsrer Amme nicht zu verachten, welche uns, da wir
noch das Glük ihrer einsichtsvollen Erziehung genossen,
unter Auführung einer langen Reihe von Familienbey-
spielen, ernstlich zu vermahnen pflegte, die Warnun-
nungen und Fingerzeige der Träume ja nicht für gleich-
gültig anzusehen.

Agathon hatte diesen Morgen, nachdem er in einer
Verwirrung von uneinigen Gedanken und Gemüthsbe-
wegungen endlich eingeschlummert war, einen Traum,
den wir mit einigem Recht zu den kleinen Ursachen
zählen können, durch welche grosse Begebenheiten her-
vorgebracht worden sind. Wir wollen ihn erzählen,
wie wir ihn in unsrer Urkunde finden, und dem Leser
überlassen, was er davon urtheilen will. Jhn däuchte
also, daß er in einer Gesellschaft von Nymphen und Lie-
besgöttern auf einer anmuthigen Ebne sich erlustige.
Danae war unter ihnen. Mit zauberischem Lächeln
reichte sie ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schaale
voll Nectars, welchen er an ihren Bliken hangend mit
wollüstigen Zügen hinunterschlürfte. Auf einmal fieng
alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Ne-
bel von süssen Düften schien rings um ihn her die wahre
Gestalt der Dinge zu verbergen, und tausend liebliche
Gestalten gaukelten vor seiner Stirne, welche wie Seif-
fenblasen eben so schnell zerflossen als eutstuhnden. Jn
diesem Taumel tanzte und hüpfte er eine Zeit lang fort,

biß
Q 2

Sechstes Buch, viertes Capitel.
einem vollern Maaſſe gelangt ſind als wir. Jndeſſen
haben wir uns doch zum Geſez gemacht, den guten Rath
unſrer Amme nicht zu verachten, welche uns, da wir
noch das Gluͤk ihrer einſichtsvollen Erziehung genoſſen,
unter Aufuͤhrung einer langen Reihe von Familienbey-
ſpielen, ernſtlich zu vermahnen pflegte, die Warnun-
nungen und Fingerzeige der Traͤume ja nicht fuͤr gleich-
guͤltig anzuſehen.

Agathon hatte dieſen Morgen, nachdem er in einer
Verwirrung von uneinigen Gedanken und Gemuͤthsbe-
wegungen endlich eingeſchlummert war, einen Traum,
den wir mit einigem Recht zu den kleinen Urſachen
zaͤhlen koͤnnen, durch welche groſſe Begebenheiten her-
vorgebracht worden ſind. Wir wollen ihn erzaͤhlen,
wie wir ihn in unſrer Urkunde finden, und dem Leſer
uͤberlaſſen, was er davon urtheilen will. Jhn daͤuchte
alſo, daß er in einer Geſellſchaft von Nymphen und Lie-
besgoͤttern auf einer anmuthigen Ebne ſich erluſtige.
Danae war unter ihnen. Mit zauberiſchem Laͤcheln
reichte ſie ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schaale
voll Nectars, welchen er an ihren Bliken hangend mit
wolluͤſtigen Zuͤgen hinunterſchluͤrfte. Auf einmal fieng
alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Ne-
bel von ſuͤſſen Duͤften ſchien rings um ihn her die wahre
Geſtalt der Dinge zu verbergen, und tauſend liebliche
Geſtalten gaukelten vor ſeiner Stirne, welche wie Seif-
fenblaſen eben ſo ſchnell zerfloſſen als eutſtuhnden. Jn
dieſem Taumel tanzte und huͤpfte er eine Zeit lang fort,

biß
Q 2
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[243/0265] Sechstes Buch, viertes Capitel. einem vollern Maaſſe gelangt ſind als wir. Jndeſſen haben wir uns doch zum Geſez gemacht, den guten Rath unſrer Amme nicht zu verachten, welche uns, da wir noch das Gluͤk ihrer einſichtsvollen Erziehung genoſſen, unter Aufuͤhrung einer langen Reihe von Familienbey- ſpielen, ernſtlich zu vermahnen pflegte, die Warnun- nungen und Fingerzeige der Traͤume ja nicht fuͤr gleich- guͤltig anzuſehen. Agathon hatte dieſen Morgen, nachdem er in einer Verwirrung von uneinigen Gedanken und Gemuͤthsbe- wegungen endlich eingeſchlummert war, einen Traum, den wir mit einigem Recht zu den kleinen Urſachen zaͤhlen koͤnnen, durch welche groſſe Begebenheiten her- vorgebracht worden ſind. Wir wollen ihn erzaͤhlen, wie wir ihn in unſrer Urkunde finden, und dem Leſer uͤberlaſſen, was er davon urtheilen will. Jhn daͤuchte alſo, daß er in einer Geſellſchaft von Nymphen und Lie- besgoͤttern auf einer anmuthigen Ebne ſich erluſtige. Danae war unter ihnen. Mit zauberiſchem Laͤcheln reichte ſie ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schaale voll Nectars, welchen er an ihren Bliken hangend mit wolluͤſtigen Zuͤgen hinunterſchluͤrfte. Auf einmal fieng alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Ne- bel von ſuͤſſen Duͤften ſchien rings um ihn her die wahre Geſtalt der Dinge zu verbergen, und tauſend liebliche Geſtalten gaukelten vor ſeiner Stirne, welche wie Seif- fenblaſen eben ſo ſchnell zerfloſſen als eutſtuhnden. Jn dieſem Taumel tanzte und huͤpfte er eine Zeit lang fort, biß Q 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/265>, abgerufen am 29.03.2024.