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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, fünftes Capitel.
eine Spur von meiner Freundin zu endeken hofte; thö-
richt genug mir einzubilden, daß sie mich, wo sie auch
seyn möchte, durch die magische Gewalt der Sympa-
thle unsrer Seelen nach sich ziehen werde. Aber meine
Hofnung betrog mich; niemand konnte mir die gering-
ste Nachricht von ihr geben. Unempfindlich gegen alles
Elend, welches ich auf dieser unsinnigen Wanderschaft
erfahren mußte, fühlte ich keinen andern Schmerz als
die Trennung von meiner Geliebten und die Ungewiß-
heit, was ihr Schiksal sey; ich würde die Versicherung,
das es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben bezahlt
haben. Endlich führte mich der Zufall oder eine mit-
leidige Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben
untergegangen, als ich von den Beschwehrlichkeiten der
Reise, und einer Diät, deren ich nicht gewohnt war,
äusserst abgemattet, vor dem Hofe eines von den präch-
tigen Landgütern ankam, welche die Küsten des Corin-
thischen Meeres verschönern. Jch warf mich unter ei-
ne hohe Cypresse nieder, und verlohr mich in den Vor-
stellungen der natürlichen, und dennoch in der Hize der
Leidenschaft nicht vorhergesehenen Folgen meiner Flucht
von Delphi. Jn der That war meine Situation fähig,
den herzhaftesten Muth niederzuschlagen. Jn eine Welt
ausgestossen, worinn mir alles fremd war, ohne Freun-
de, unwissend wie ich ein Leben werde erhalten können,
dessen Urheber mir nicht einmal bekannt war --
warf ich tranrige Blike um mich her -- die ganze
Natur schien mich verlassen zu haben -- auf dem
weiten Umfang der mütterlichen Erde sah ich nichts,

worauf
U 5

Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel.
eine Spur von meiner Freundin zu endeken hofte; thoͤ-
richt genug mir einzubilden, daß ſie mich, wo ſie auch
ſeyn moͤchte, durch die magiſche Gewalt der Sympa-
thle unſrer Seelen nach ſich ziehen werde. Aber meine
Hofnung betrog mich; niemand konnte mir die gering-
ſte Nachricht von ihr geben. Unempfindlich gegen alles
Elend, welches ich auf dieſer unſinnigen Wanderſchaft
erfahren mußte, fuͤhlte ich keinen andern Schmerz als
die Trennung von meiner Geliebten und die Ungewiß-
heit, was ihr Schikſal ſey; ich wuͤrde die Verſicherung,
das es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben bezahlt
haben. Endlich fuͤhrte mich der Zufall oder eine mit-
leidige Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben
untergegangen, als ich von den Beſchwehrlichkeiten der
Reiſe, und einer Diaͤt, deren ich nicht gewohnt war,
aͤuſſerſt abgemattet, vor dem Hofe eines von den praͤch-
tigen Landguͤtern ankam, welche die Kuͤſten des Corin-
thiſchen Meeres verſchoͤnern. Jch warf mich unter ei-
ne hohe Cypreſſe nieder, und verlohr mich in den Vor-
ſtellungen der natuͤrlichen, und dennoch in der Hize der
Leidenſchaft nicht vorhergeſehenen Folgen meiner Flucht
von Delphi. Jn der That war meine Situation faͤhig,
den herzhafteſten Muth niederzuſchlagen. Jn eine Welt
ausgeſtoſſen, worinn mir alles fremd war, ohne Freun-
de, unwiſſend wie ich ein Leben werde erhalten koͤnnen,
deſſen Urheber mir nicht einmal bekannt war —
warf ich tranrige Blike um mich her — die ganze
Natur ſchien mich verlaſſen zu haben — auf dem
weiten Umfang der muͤtterlichen Erde ſah ich nichts,

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[313/0335] Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. eine Spur von meiner Freundin zu endeken hofte; thoͤ- richt genug mir einzubilden, daß ſie mich, wo ſie auch ſeyn moͤchte, durch die magiſche Gewalt der Sympa- thle unſrer Seelen nach ſich ziehen werde. Aber meine Hofnung betrog mich; niemand konnte mir die gering- ſte Nachricht von ihr geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieſer unſinnigen Wanderſchaft erfahren mußte, fuͤhlte ich keinen andern Schmerz als die Trennung von meiner Geliebten und die Ungewiß- heit, was ihr Schikſal ſey; ich wuͤrde die Verſicherung, das es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben bezahlt haben. Endlich fuͤhrte mich der Zufall oder eine mit- leidige Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben untergegangen, als ich von den Beſchwehrlichkeiten der Reiſe, und einer Diaͤt, deren ich nicht gewohnt war, aͤuſſerſt abgemattet, vor dem Hofe eines von den praͤch- tigen Landguͤtern ankam, welche die Kuͤſten des Corin- thiſchen Meeres verſchoͤnern. Jch warf mich unter ei- ne hohe Cypreſſe nieder, und verlohr mich in den Vor- ſtellungen der natuͤrlichen, und dennoch in der Hize der Leidenſchaft nicht vorhergeſehenen Folgen meiner Flucht von Delphi. Jn der That war meine Situation faͤhig, den herzhafteſten Muth niederzuſchlagen. Jn eine Welt ausgeſtoſſen, worinn mir alles fremd war, ohne Freun- de, unwiſſend wie ich ein Leben werde erhalten koͤnnen, deſſen Urheber mir nicht einmal bekannt war — warf ich tranrige Blike um mich her — die ganze Natur ſchien mich verlaſſen zu haben — auf dem weiten Umfang der muͤtterlichen Erde ſah ich nichts, worauf U 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/335>, abgerufen am 24.04.2024.