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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Erstes Buch, fünftes Capitel.
Sclaven; ihre Seelen erkannten einander in eben dem-
selben Augenblike, und schienen durch ihre Blike schon
in einander zu fliessen, eh ihre Arme sich umfangen,
und die von Entzükung bebende Lippen-Psyche-Aga-
thon, ausrufen konnten. Sie schwiegen eine lange
Zeit; dasjenige, was sie empfanden, war über allen
Ausdruk; und wozu bedurften sie der Worte? Der Ge-
brauch der Sprache hört auf, wenn sich die Seelen ein-
ander unmittelbar mittheilen, sich unmittelbar anschauen
und berühren, und in einem Augenblik mehr empfinden,
als die Zunge der Musen selbst in ganzen Jahren aus-
zusprechen vermöchte. Die Sonne würde vielleicht un-
bemerkt über ihrem Haupt hinweg, und wieder in den
Ocean hinab gestiegen seyn, ohne daß sie in den fort-
daurenden Augenblik der Entzükung den Wechsel der
Stunden bemerkt hätten; wenn nicht Agathon dem es
allerdings zukam hierinn der erste zu seyn, sich mit sanfter
Gewalt aus den Armen seiner Psyche losgewunden hätte,
um von ihr zu erfahren, durch was für einen Zufall sie in
die Gewalt der Seeräuber gekommen sey. Die Zeit ist
kostbar, liebste Psyche sagte er, wir müssen uns der Au-
genblike bemächtigen, da diese Barbaren, von der Gewalt
ihres Gottes bezwungen, zu Boden liegen. Erzähle mir,
durch was für einen Zufall wurdest du von meiner Seite
gerissen, ohne daß es mir möglich war zu erfahren, wie
oder wohin? Und wie finde ich dich izt in diesem Scla-
venkleid, und in der Gewalt dieser Seeräuber?

Sechstes

Erſtes Buch, fuͤnftes Capitel.
Sclaven; ihre Seelen erkannten einander in eben dem-
ſelben Augenblike, und ſchienen durch ihre Blike ſchon
in einander zu flieſſen, eh ihre Arme ſich umfangen,
und die von Entzuͤkung bebende Lippen-Pſyche-Aga-
thon, ausrufen konnten. Sie ſchwiegen eine lange
Zeit; dasjenige, was ſie empfanden, war uͤber allen
Ausdruk; und wozu bedurften ſie der Worte? Der Ge-
brauch der Sprache hoͤrt auf, wenn ſich die Seelen ein-
ander unmittelbar mittheilen, ſich unmittelbar anſchauen
und beruͤhren, und in einem Augenblik mehr empfinden,
als die Zunge der Muſen ſelbſt in ganzen Jahren aus-
zuſprechen vermoͤchte. Die Sonne wuͤrde vielleicht un-
bemerkt uͤber ihrem Haupt hinweg, und wieder in den
Ocean hinab geſtiegen ſeyn, ohne daß ſie in den fort-
daurenden Augenblik der Entzuͤkung den Wechſel der
Stunden bemerkt haͤtten; wenn nicht Agathon dem es
allerdings zukam hierinn der erſte zu ſeyn, ſich mit ſanfter
Gewalt aus den Armen ſeiner Pſyche losgewunden haͤtte,
um von ihr zu erfahren, durch was fuͤr einen Zufall ſie in
die Gewalt der Seeraͤuber gekommen ſey. Die Zeit iſt
koſtbar, liebſte Pſyche ſagte er, wir muͤſſen uns der Au-
genblike bemaͤchtigen, da dieſe Barbaren, von der Gewalt
ihres Gottes bezwungen, zu Boden liegen. Erzaͤhle mir,
durch was fuͤr einen Zufall wurdeſt du von meiner Seite
geriſſen, ohne daß es mir moͤglich war zu erfahren, wie
oder wohin? Und wie finde ich dich izt in dieſem Scla-
venkleid, und in der Gewalt dieſer Seeraͤuber?

Sechſtes
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[15/0037] Erſtes Buch, fuͤnftes Capitel. Sclaven; ihre Seelen erkannten einander in eben dem- ſelben Augenblike, und ſchienen durch ihre Blike ſchon in einander zu flieſſen, eh ihre Arme ſich umfangen, und die von Entzuͤkung bebende Lippen-Pſyche-Aga- thon, ausrufen konnten. Sie ſchwiegen eine lange Zeit; dasjenige, was ſie empfanden, war uͤber allen Ausdruk; und wozu bedurften ſie der Worte? Der Ge- brauch der Sprache hoͤrt auf, wenn ſich die Seelen ein- ander unmittelbar mittheilen, ſich unmittelbar anſchauen und beruͤhren, und in einem Augenblik mehr empfinden, als die Zunge der Muſen ſelbſt in ganzen Jahren aus- zuſprechen vermoͤchte. Die Sonne wuͤrde vielleicht un- bemerkt uͤber ihrem Haupt hinweg, und wieder in den Ocean hinab geſtiegen ſeyn, ohne daß ſie in den fort- daurenden Augenblik der Entzuͤkung den Wechſel der Stunden bemerkt haͤtten; wenn nicht Agathon dem es allerdings zukam hierinn der erſte zu ſeyn, ſich mit ſanfter Gewalt aus den Armen ſeiner Pſyche losgewunden haͤtte, um von ihr zu erfahren, durch was fuͤr einen Zufall ſie in die Gewalt der Seeraͤuber gekommen ſey. Die Zeit iſt koſtbar, liebſte Pſyche ſagte er, wir muͤſſen uns der Au- genblike bemaͤchtigen, da dieſe Barbaren, von der Gewalt ihres Gottes bezwungen, zu Boden liegen. Erzaͤhle mir, durch was fuͤr einen Zufall wurdeſt du von meiner Seite geriſſen, ohne daß es mir moͤglich war zu erfahren, wie oder wohin? Und wie finde ich dich izt in dieſem Scla- venkleid, und in der Gewalt dieſer Seeraͤuber? Sechſtes

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/37>, abgerufen am 25.04.2024.