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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
ihnen zu ziehen. Jhre erste Sorge war, sie in eines
der öffentlichen Bäder zu führen, wo man nichts ver-
gaß, was dazu dienen konnte, sie den folgenden Tag
verkäuflicher zu machen. Agathon war noch zu sehr
von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war,
eingenommen, als daß er auf das gegenwärtige auf-
merksam seyn konnte. Er wurde gebadet, abgerieben,
mit Salben und wolriechenden Wassern begossen, mit
einem Sclaven-Kleid von vielfarbichter Seide angethan,
mit allem was seine Gestalt erheben konnte, ausge-
schmükt, und von allen, die ihn sahen, bewundert;
ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfind-
lichkeit erweklen konnte, welche in gewissen Umständen
eine Folge der übermässigen Empfindlichkeit ist. Jn
dasjenige vertieft, was in seiner Seele vorgieng, schien
er, weder zu sehen, noch zu hören; weil er nichts sah,
oder hörte, was er wünschte; und nichts als der An-
blik, der sich ihm auf dem Sclaven-Markte darstellte,
war vermögend, ihn aus dieser wachenden Träumerey
aufzurütteln. Diese Scene hatte zwar das Abscheuliche
nicht, das ein Sclaven-Markt zu Barbados so
gar für einen Curopäer haben könnte, dem die Vor-
urtheile der gesitteten Völker noch einige Ueberbleibsel
des angebohrnen menschlichen Gefühls gelassen hätten;
allein sie hatte doch genug, um eine Seele zu empö-
ren, die sich gewöhnt hatte, in den Menschen mehr die
Schönheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zu-
stands; mehr das, was sie nach gewissen Voraussezun-

gen

Agathon.
ihnen zu ziehen. Jhre erſte Sorge war, ſie in eines
der oͤffentlichen Baͤder zu fuͤhren, wo man nichts ver-
gaß, was dazu dienen konnte, ſie den folgenden Tag
verkaͤuflicher zu machen. Agathon war noch zu ſehr
von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war,
eingenommen, als daß er auf das gegenwaͤrtige auf-
merkſam ſeyn konnte. Er wurde gebadet, abgerieben,
mit Salben und wolriechenden Waſſern begoſſen, mit
einem Sclaven-Kleid von vielfarbichter Seide angethan,
mit allem was ſeine Geſtalt erheben konnte, ausge-
ſchmuͤkt, und von allen, die ihn ſahen, bewundert;
ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfind-
lichkeit erweklen konnte, welche in gewiſſen Umſtaͤnden
eine Folge der uͤbermaͤſſigen Empfindlichkeit iſt. Jn
dasjenige vertieft, was in ſeiner Seele vorgieng, ſchien
er, weder zu ſehen, noch zu hoͤren; weil er nichts ſah,
oder hoͤrte, was er wuͤnſchte; und nichts als der An-
blik, der ſich ihm auf dem Sclaven-Markte darſtellte,
war vermoͤgend, ihn aus dieſer wachenden Traͤumerey
aufzuruͤtteln. Dieſe Scene hatte zwar das Abſcheuliche
nicht, das ein Sclaven-Markt zu Barbados ſo
gar fuͤr einen Curopaͤer haben koͤnnte, dem die Vor-
urtheile der geſitteten Voͤlker noch einige Ueberbleibſel
des angebohrnen menſchlichen Gefuͤhls gelaſſen haͤtten;
allein ſie hatte doch genug, um eine Seele zu empoͤ-
ren, die ſich gewoͤhnt hatte, in den Menſchen mehr die
Schoͤnheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zu-
ſtands; mehr das, was ſie nach gewiſſen Vorausſezun-

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[36/0058] Agathon. ihnen zu ziehen. Jhre erſte Sorge war, ſie in eines der oͤffentlichen Baͤder zu fuͤhren, wo man nichts ver- gaß, was dazu dienen konnte, ſie den folgenden Tag verkaͤuflicher zu machen. Agathon war noch zu ſehr von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war, eingenommen, als daß er auf das gegenwaͤrtige auf- merkſam ſeyn konnte. Er wurde gebadet, abgerieben, mit Salben und wolriechenden Waſſern begoſſen, mit einem Sclaven-Kleid von vielfarbichter Seide angethan, mit allem was ſeine Geſtalt erheben konnte, ausge- ſchmuͤkt, und von allen, die ihn ſahen, bewundert; ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfind- lichkeit erweklen konnte, welche in gewiſſen Umſtaͤnden eine Folge der uͤbermaͤſſigen Empfindlichkeit iſt. Jn dasjenige vertieft, was in ſeiner Seele vorgieng, ſchien er, weder zu ſehen, noch zu hoͤren; weil er nichts ſah, oder hoͤrte, was er wuͤnſchte; und nichts als der An- blik, der ſich ihm auf dem Sclaven-Markte darſtellte, war vermoͤgend, ihn aus dieſer wachenden Traͤumerey aufzuruͤtteln. Dieſe Scene hatte zwar das Abſcheuliche nicht, das ein Sclaven-Markt zu Barbados ſo gar fuͤr einen Curopaͤer haben koͤnnte, dem die Vor- urtheile der geſitteten Voͤlker noch einige Ueberbleibſel des angebohrnen menſchlichen Gefuͤhls gelaſſen haͤtten; allein ſie hatte doch genug, um eine Seele zu empoͤ- ren, die ſich gewoͤhnt hatte, in den Menſchen mehr die Schoͤnheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zu- ſtands; mehr das, was ſie nach gewiſſen Vorausſezun- gen

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/58>, abgerufen am 25.04.2024.