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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, erstes Capitel.
tig zu entdeken, wie viel an der Gunst dieser reizenden
Geschöpfe gelegen ist, welche in den policierten Theilen
des Erdbodens die Macht würklich ausüben, die in den
Mährchen den Feen beygelegt wird; die mit einem ein-
zigen Blik, oder durch eine kleine Verschiebung des Hals-
tuchs stärker überzeugen, als Demosthenes und Lysias
durch lange Reden; die mit einer einzigen Thräne den Ge-
bieter über Legionen entwafnen, und durch den blossen
Vortheil, den sie von ihrer Gestalt und einem gewissen
Bedürfniß des stärkern Geschlechts zu ziehen wissen, sich
zu unumschränkten Beherrscherinnen derjenigen machen,
in deren Händen das Schiksal ganzer Völker ligt. Hip-
pias hatte diese Entdekung von so grossem Nuzen gefun-
den, daß er keine Mühe gesparet hatte, es in der An-
wendung derselben zu dem höchsten Grade der Vollkom-
menheit zu bringen; und dasjenige, was er in seinem
Alter noch davon hatte, bewieß, was er in seinen schö-
nen Jahren gewesen seyn müsse. Seine Eitelkeit gieng
so weit, daß er sich nicht enthalten konnte, die Kunst,
die Zauberinnen zu bezaubern, in die Form eines Lehr-
Begrifs zu bringen, und seine Erfahrungen und Beob-
achtungen hierüber der Welt in einer sehr gelehrten Ab-
handlung mitzutheilen, deren Verlust nicht wenig zu be-
dauern ist, und schwerlich von einem heutigen Schrift-
steller unsrer Nation zu ersezen seyn möchte.

Nach allem, was wir bereits von diesem weisen
Manne gesagt haben, wär es überflüssig, eine Abschil-

derung

Zweytes Buch, erſtes Capitel.
tig zu entdeken, wie viel an der Gunſt dieſer reizenden
Geſchoͤpfe gelegen iſt, welche in den policierten Theilen
des Erdbodens die Macht wuͤrklich ausuͤben, die in den
Maͤhrchen den Feen beygelegt wird; die mit einem ein-
zigen Blik, oder durch eine kleine Verſchiebung des Hals-
tuchs ſtaͤrker uͤberzeugen, als Demoſthenes und Lyſias
durch lange Reden; die mit einer einzigen Thraͤne den Ge-
bieter uͤber Legionen entwafnen, und durch den bloſſen
Vortheil, den ſie von ihrer Geſtalt und einem gewiſſen
Beduͤrfniß des ſtaͤrkern Geſchlechts zu ziehen wiſſen, ſich
zu unumſchraͤnkten Beherrſcherinnen derjenigen machen,
in deren Haͤnden das Schikſal ganzer Voͤlker ligt. Hip-
pias hatte dieſe Entdekung von ſo groſſem Nuzen gefun-
den, daß er keine Muͤhe geſparet hatte, es in der An-
wendung derſelben zu dem hoͤchſten Grade der Vollkom-
menheit zu bringen; und dasjenige, was er in ſeinem
Alter noch davon hatte, bewieß, was er in ſeinen ſchoͤ-
nen Jahren geweſen ſeyn muͤſſe. Seine Eitelkeit gieng
ſo weit, daß er ſich nicht enthalten konnte, die Kunſt,
die Zauberinnen zu bezaubern, in die Form eines Lehr-
Begrifs zu bringen, und ſeine Erfahrungen und Beob-
achtungen hieruͤber der Welt in einer ſehr gelehrten Ab-
handlung mitzutheilen, deren Verluſt nicht wenig zu be-
dauern iſt, und ſchwerlich von einem heutigen Schrift-
ſteller unſrer Nation zu erſezen ſeyn moͤchte.

Nach allem, was wir bereits von dieſem weiſen
Manne geſagt haben, waͤr es uͤberfluͤſſig, eine Abſchil-

derung
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[43/0065] Zweytes Buch, erſtes Capitel. tig zu entdeken, wie viel an der Gunſt dieſer reizenden Geſchoͤpfe gelegen iſt, welche in den policierten Theilen des Erdbodens die Macht wuͤrklich ausuͤben, die in den Maͤhrchen den Feen beygelegt wird; die mit einem ein- zigen Blik, oder durch eine kleine Verſchiebung des Hals- tuchs ſtaͤrker uͤberzeugen, als Demoſthenes und Lyſias durch lange Reden; die mit einer einzigen Thraͤne den Ge- bieter uͤber Legionen entwafnen, und durch den bloſſen Vortheil, den ſie von ihrer Geſtalt und einem gewiſſen Beduͤrfniß des ſtaͤrkern Geſchlechts zu ziehen wiſſen, ſich zu unumſchraͤnkten Beherrſcherinnen derjenigen machen, in deren Haͤnden das Schikſal ganzer Voͤlker ligt. Hip- pias hatte dieſe Entdekung von ſo groſſem Nuzen gefun- den, daß er keine Muͤhe geſparet hatte, es in der An- wendung derſelben zu dem hoͤchſten Grade der Vollkom- menheit zu bringen; und dasjenige, was er in ſeinem Alter noch davon hatte, bewieß, was er in ſeinen ſchoͤ- nen Jahren geweſen ſeyn muͤſſe. Seine Eitelkeit gieng ſo weit, daß er ſich nicht enthalten konnte, die Kunſt, die Zauberinnen zu bezaubern, in die Form eines Lehr- Begrifs zu bringen, und ſeine Erfahrungen und Beob- achtungen hieruͤber der Welt in einer ſehr gelehrten Ab- handlung mitzutheilen, deren Verluſt nicht wenig zu be- dauern iſt, und ſchwerlich von einem heutigen Schrift- ſteller unſrer Nation zu erſezen ſeyn moͤchte. Nach allem, was wir bereits von dieſem weiſen Manne geſagt haben, waͤr es uͤberfluͤſſig, eine Abſchil- derung

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/65>, abgerufen am 28.03.2024.