Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehentes Buch, zweytes Capitel.
tugendhaften Cleonissa angewandt wurden, den Prinzen
in die Schranken der Gebühr zurükzubringen. Alles
dieses machte eine Art von Jntrigue aus, bey welcher,
ungeachtet der anscheinenden Ruhe, der ganze Hof in
innerlicher Bewegung war. Der einzige Philistus, der-
jenige der am meisten Ursache hatte, aufmerksam zu
seyn, wußte nichts von allem was jedermann wußte;
oder bewies doch wenigstens in seinem ganzen Betragen
eine so seltsame Sicherheit, daß wir, wenn uns das aus-
serordentliche Vertrauen nicht bekannt wäre, welches er
in die Tugend seiner Gemalin zu sezen Ursache hatte,
fast nothwendig auf den Argwohn gerathen müßten,
als ob er gewisse Absichten bey dieser Aufführung gehabt
haben könnte, welche seinem Character keine sonder-
liche Ehre machen würden.

Alles gieng wie es gehen sollte; Dionys sezte die Be-
lagerung mit der äussersten Hartnäkigkeit und mit Hof-
nungen fort, welche der tapfre Widerstand der weisen
Cleonissa ziemlich zweydeutig machte -- die Liebe schien
noch wenig über ihre Tugend erhalten zu haben, ob-
gleich diese allmählich anfieng, von ihrer Majestät nach-
zulassen, und zu erkennen zu geben, daß sie nicht ganz
ungeneigt wäre, unter hinlänglicher Sicherheit sich in
ein geheimes Verständniß, in so fern es eine blosse Liebe
der Seele zur Absicht hätte, einzulassen -- Die Princes-
sinnen sahen mit dem vollkommensten Vertrauen auf die
keuschen Reizungen ihrer Freundin, der Entwiklung des
Stüks entgegen -- und Philistus war von einer Gefäl-
ligkeit, von einer Jndolenz, wie man niemals gesehen

hat:
P 5

Zehentes Buch, zweytes Capitel.
tugendhaften Cleoniſſa angewandt wurden, den Prinzen
in die Schranken der Gebuͤhr zuruͤkzubringen. Alles
dieſes machte eine Art von Jntrigue aus, bey welcher,
ungeachtet der anſcheinenden Ruhe, der ganze Hof in
innerlicher Bewegung war. Der einzige Philiſtus, der-
jenige der am meiſten Urſache hatte, aufmerkſam zu
ſeyn, wußte nichts von allem was jedermann wußte;
oder bewies doch wenigſtens in ſeinem ganzen Betragen
eine ſo ſeltſame Sicherheit, daß wir, wenn uns das auſ-
ſerordentliche Vertrauen nicht bekannt waͤre, welches er
in die Tugend ſeiner Gemalin zu ſezen Urſache hatte,
faſt nothwendig auf den Argwohn gerathen muͤßten,
als ob er gewiſſe Abſichten bey dieſer Auffuͤhrung gehabt
haben koͤnnte, welche ſeinem Character keine ſonder-
liche Ehre machen wuͤrden.

Alles gieng wie es gehen ſollte; Dionys ſezte die Be-
lagerung mit der aͤuſſerſten Hartnaͤkigkeit und mit Hof-
nungen fort, welche der tapfre Widerſtand der weiſen
Cleoniſſa ziemlich zweydeutig machte ‒‒ die Liebe ſchien
noch wenig uͤber ihre Tugend erhalten zu haben, ob-
gleich dieſe allmaͤhlich anfieng, von ihrer Majeſtaͤt nach-
zulaſſen, und zu erkennen zu geben, daß ſie nicht ganz
ungeneigt waͤre, unter hinlaͤnglicher Sicherheit ſich in
ein geheimes Verſtaͤndniß, in ſo fern es eine bloſſe Liebe
der Seele zur Abſicht haͤtte, einzulaſſen ‒‒ Die Princeſ-
ſinnen ſahen mit dem vollkommenſten Vertrauen auf die
keuſchen Reizungen ihrer Freundin, der Entwiklung des
Stuͤks entgegen ‒‒ und Philiſtus war von einer Gefaͤl-
ligkeit, von einer Jndolenz, wie man niemals geſehen

hat:
P 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0235" n="233"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zehentes Buch, zweytes Capitel.</hi></fw><lb/>
tugendhaften Cleoni&#x017F;&#x017F;a angewandt wurden, den Prinzen<lb/>
in die Schranken der Gebu&#x0364;hr zuru&#x0364;kzubringen. Alles<lb/>
die&#x017F;es machte eine Art von Jntrigue aus, bey welcher,<lb/>
ungeachtet der an&#x017F;cheinenden Ruhe, der ganze Hof in<lb/>
innerlicher Bewegung war. Der einzige Phili&#x017F;tus, der-<lb/>
jenige der am mei&#x017F;ten Ur&#x017F;ache hatte, aufmerk&#x017F;am zu<lb/>
&#x017F;eyn, wußte nichts von allem was jedermann wußte;<lb/>
oder bewies doch wenig&#x017F;tens in &#x017F;einem ganzen Betragen<lb/>
eine &#x017F;o &#x017F;elt&#x017F;ame Sicherheit, daß wir, wenn uns das au&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erordentliche Vertrauen nicht bekannt wa&#x0364;re, welches er<lb/>
in die Tugend &#x017F;einer Gemalin zu &#x017F;ezen Ur&#x017F;ache hatte,<lb/>
fa&#x017F;t nothwendig auf den Argwohn gerathen mu&#x0364;ßten,<lb/>
als ob er gewi&#x017F;&#x017F;e Ab&#x017F;ichten bey die&#x017F;er Auffu&#x0364;hrung gehabt<lb/>
haben ko&#x0364;nnte, welche &#x017F;einem Character keine &#x017F;onder-<lb/>
liche Ehre machen wu&#x0364;rden.</p><lb/>
            <p>Alles gieng wie es gehen &#x017F;ollte; Dionys &#x017F;ezte die Be-<lb/>
lagerung mit der a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ten Hartna&#x0364;kigkeit und mit Hof-<lb/>
nungen fort, welche der tapfre Wider&#x017F;tand der wei&#x017F;en<lb/>
Cleoni&#x017F;&#x017F;a ziemlich zweydeutig machte &#x2012;&#x2012; die Liebe &#x017F;chien<lb/>
noch wenig u&#x0364;ber ihre Tugend erhalten zu haben, ob-<lb/>
gleich die&#x017F;e allma&#x0364;hlich anfieng, von ihrer Maje&#x017F;ta&#x0364;t nach-<lb/>
zula&#x017F;&#x017F;en, und zu erkennen zu geben, daß &#x017F;ie nicht ganz<lb/>
ungeneigt wa&#x0364;re, unter hinla&#x0364;nglicher Sicherheit &#x017F;ich in<lb/>
ein geheimes Ver&#x017F;ta&#x0364;ndniß, in &#x017F;o fern es eine blo&#x017F;&#x017F;e Liebe<lb/>
der Seele zur Ab&#x017F;icht ha&#x0364;tte, einzula&#x017F;&#x017F;en &#x2012;&#x2012; Die Prince&#x017F;-<lb/>
&#x017F;innen &#x017F;ahen mit dem vollkommen&#x017F;ten Vertrauen auf die<lb/>
keu&#x017F;chen Reizungen ihrer Freundin, der Entwiklung des<lb/>
Stu&#x0364;ks entgegen &#x2012;&#x2012; und Phili&#x017F;tus war von einer Gefa&#x0364;l-<lb/>
ligkeit, von einer Jndolenz, wie man niemals ge&#x017F;ehen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 5</fw><fw place="bottom" type="catch">hat:</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0235] Zehentes Buch, zweytes Capitel. tugendhaften Cleoniſſa angewandt wurden, den Prinzen in die Schranken der Gebuͤhr zuruͤkzubringen. Alles dieſes machte eine Art von Jntrigue aus, bey welcher, ungeachtet der anſcheinenden Ruhe, der ganze Hof in innerlicher Bewegung war. Der einzige Philiſtus, der- jenige der am meiſten Urſache hatte, aufmerkſam zu ſeyn, wußte nichts von allem was jedermann wußte; oder bewies doch wenigſtens in ſeinem ganzen Betragen eine ſo ſeltſame Sicherheit, daß wir, wenn uns das auſ- ſerordentliche Vertrauen nicht bekannt waͤre, welches er in die Tugend ſeiner Gemalin zu ſezen Urſache hatte, faſt nothwendig auf den Argwohn gerathen muͤßten, als ob er gewiſſe Abſichten bey dieſer Auffuͤhrung gehabt haben koͤnnte, welche ſeinem Character keine ſonder- liche Ehre machen wuͤrden. Alles gieng wie es gehen ſollte; Dionys ſezte die Be- lagerung mit der aͤuſſerſten Hartnaͤkigkeit und mit Hof- nungen fort, welche der tapfre Widerſtand der weiſen Cleoniſſa ziemlich zweydeutig machte ‒‒ die Liebe ſchien noch wenig uͤber ihre Tugend erhalten zu haben, ob- gleich dieſe allmaͤhlich anfieng, von ihrer Majeſtaͤt nach- zulaſſen, und zu erkennen zu geben, daß ſie nicht ganz ungeneigt waͤre, unter hinlaͤnglicher Sicherheit ſich in ein geheimes Verſtaͤndniß, in ſo fern es eine bloſſe Liebe der Seele zur Abſicht haͤtte, einzulaſſen ‒‒ Die Princeſ- ſinnen ſahen mit dem vollkommenſten Vertrauen auf die keuſchen Reizungen ihrer Freundin, der Entwiklung des Stuͤks entgegen ‒‒ und Philiſtus war von einer Gefaͤl- ligkeit, von einer Jndolenz, wie man niemals geſehen hat: P 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/235
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/235>, abgerufen am 19.04.2024.