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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
chen, ihn zu überraschen; aber es würde grausam ge-
wesen seyn, eine Tragödie mit ihm zu spielen, so
glüklich auch am Ende die Entwiklung immer hätte seyn
mögen. Die zärtliche Psyche sah etliche Augenblike sei-
ner Verwirrung zu; aber länger konnte sie sich nicht
zurükhalten. Sie flog ihm mit ofnen Armen entgegen,
und indem ihre Freuden-Thränen seine glühende Wan-
gen bethauten, hörte er sich mit einem Namen benennen,
der ihre zärtlichste Liebkosungen selbst in Gegenwart eines
Gemahls rechtfertigte.

Wäre die Liebe, welche sie ihm in dem Hayn zu
Delphi eingeflößt hatte, weniger platonisch gewesen, so
würde die Entdekung einer Schwester in der Geliebten
seines Herzens nicht so erfreulich gewesen seyn, als sie
ihm war. Aber man erinnert sich noch, daß ihre Liebe,
so ausnehmend zärtlich sie auch gewesen war, doch mehr
der Liebe, welche die Natur zwischen Geschwistern von
übereinstimmender Gemüths-Art stiftet, als derjenigen
geglichen hatte, welche sich auf die Zauberey eines an-
dern Jnstincts gründet, von dessen fiebrischen Sympto-
men die ihrige allezeit frey geblieben war. Sie hatten
damals schon ein sonderbares Vergnügen daran gefun-
den, sich einzubilden, daß ihre Seelen wenigstens ein-
ander verschwistert seyen, da sie nicht Grund genug
hatten, so sehr sie es auch wünschten, die unschuldige
Anmuthung, welche sie für einander fühlten, der Wür-
kung der Sympathie des Blutes zu zuschreiben. Aga-
thon befand sich also über alles was er hätte wünschen

können,

Agathon.
chen, ihn zu uͤberraſchen; aber es wuͤrde grauſam ge-
weſen ſeyn, eine Tragoͤdie mit ihm zu ſpielen, ſo
gluͤklich auch am Ende die Entwiklung immer haͤtte ſeyn
moͤgen. Die zaͤrtliche Pſyche ſah etliche Augenblike ſei-
ner Verwirrung zu; aber laͤnger konnte ſie ſich nicht
zuruͤkhalten. Sie flog ihm mit ofnen Armen entgegen,
und indem ihre Freuden-Thraͤnen ſeine gluͤhende Wan-
gen bethauten, hoͤrte er ſich mit einem Namen benennen,
der ihre zaͤrtlichſte Liebkoſungen ſelbſt in Gegenwart eines
Gemahls rechtfertigte.

Waͤre die Liebe, welche ſie ihm in dem Hayn zu
Delphi eingefloͤßt hatte, weniger platoniſch geweſen, ſo
wuͤrde die Entdekung einer Schweſter in der Geliebten
ſeines Herzens nicht ſo erfreulich geweſen ſeyn, als ſie
ihm war. Aber man erinnert ſich noch, daß ihre Liebe,
ſo ausnehmend zaͤrtlich ſie auch geweſen war, doch mehr
der Liebe, welche die Natur zwiſchen Geſchwiſtern von
uͤbereinſtimmender Gemuͤths-Art ſtiftet, als derjenigen
geglichen hatte, welche ſich auf die Zauberey eines an-
dern Jnſtincts gruͤndet, von deſſen fiebriſchen Sympto-
men die ihrige allezeit frey geblieben war. Sie hatten
damals ſchon ein ſonderbares Vergnuͤgen daran gefun-
den, ſich einzubilden, daß ihre Seelen wenigſtens ein-
ander verſchwiſtert ſeyen, da ſie nicht Grund genug
hatten, ſo ſehr ſie es auch wuͤnſchten, die unſchuldige
Anmuthung, welche ſie fuͤr einander fuͤhlten, der Wuͤr-
kung der Sympathie des Blutes zu zuſchreiben. Aga-
thon befand ſich alſo uͤber alles was er haͤtte wuͤnſchen

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[316/0318] Agathon. chen, ihn zu uͤberraſchen; aber es wuͤrde grauſam ge- weſen ſeyn, eine Tragoͤdie mit ihm zu ſpielen, ſo gluͤklich auch am Ende die Entwiklung immer haͤtte ſeyn moͤgen. Die zaͤrtliche Pſyche ſah etliche Augenblike ſei- ner Verwirrung zu; aber laͤnger konnte ſie ſich nicht zuruͤkhalten. Sie flog ihm mit ofnen Armen entgegen, und indem ihre Freuden-Thraͤnen ſeine gluͤhende Wan- gen bethauten, hoͤrte er ſich mit einem Namen benennen, der ihre zaͤrtlichſte Liebkoſungen ſelbſt in Gegenwart eines Gemahls rechtfertigte. Waͤre die Liebe, welche ſie ihm in dem Hayn zu Delphi eingefloͤßt hatte, weniger platoniſch geweſen, ſo wuͤrde die Entdekung einer Schweſter in der Geliebten ſeines Herzens nicht ſo erfreulich geweſen ſeyn, als ſie ihm war. Aber man erinnert ſich noch, daß ihre Liebe, ſo ausnehmend zaͤrtlich ſie auch geweſen war, doch mehr der Liebe, welche die Natur zwiſchen Geſchwiſtern von uͤbereinſtimmender Gemuͤths-Art ſtiftet, als derjenigen geglichen hatte, welche ſich auf die Zauberey eines an- dern Jnſtincts gruͤndet, von deſſen fiebriſchen Sympto- men die ihrige allezeit frey geblieben war. Sie hatten damals ſchon ein ſonderbares Vergnuͤgen daran gefun- den, ſich einzubilden, daß ihre Seelen wenigſtens ein- ander verſchwiſtert ſeyen, da ſie nicht Grund genug hatten, ſo ſehr ſie es auch wuͤnſchten, die unſchuldige Anmuthung, welche ſie fuͤr einander fuͤhlten, der Wuͤr- kung der Sympathie des Blutes zu zuſchreiben. Aga- thon befand ſich alſo uͤber alles was er haͤtte wuͤnſchen koͤnnen,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/318>, abgerufen am 29.03.2024.