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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, viertes Capitel.
einfältigen, aber desto schäzbarern Wahrheiten zurük-
führte, welche der Leitfaden zu seyn scheinen, an wel-
chem uns der allgemeine Vater der Wesen durch diesen
Labyrinth des Lebens sicher hindurchführen will -- ver-
wahrte er ihn vor dieser gänzlichen Ungewißheit des
Geistes, welche eine eben so grosse Unentschlossenheit und
Muthlosigkeit des Willens nach sich zieht, und dadurch
eine Quelle so vieler schädlicher Folgen für die Tugend
und Religion, und also für die Ruhe und Glükseligkeit
unsers Lebens wird, daß der Zustand des bezauberte-
sten Enthusiasten dem Zustand eines solchen Weisen vor-
zuziehen ist, der aus immerwährender Furcht zu irren,
sich endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu ver-
neinen getraut. Jn der That gleicht die Vernunft in
diesem Stük ein wenig dem Doctor Peter Rezio von
Aguero; sie hat gegen alles, womit unsre Seele ge-
nährt werden soll, soviel einzuwenden, daß diese end-
lich eben sowol aus Jnanition verschmachten müßte,
wie die unglüklichen Statthalter der Jnsel Barataria
bey der Diät, wozu sie das verwünschte Stäbchen ihres
allzuscrupulosen Leibarztes verurtheilte. Das beste ist
in diesem Falle, sich wie Sancho zu helfen. Der Jn-
stinct und dieses am wenigsten betrügliche Gefühl des
Wahren und Guten, welches die Natur allen Men-
schen zugetheilt hat, können uns am besten sagen, woran
wir uns halten sollen; und dahin müssen, früher oder
später, die grössesten Geister zurükkommen, wenn sie
nicht das Schiksal haben wollen, wie die Taube des
Altvaters Noah allenthalben herumzuflattern und nir-
gends Ruhe zu finden.

Bey

Eilftes Buch, viertes Capitel.
einfaͤltigen, aber deſto ſchaͤzbarern Wahrheiten zuruͤk-
fuͤhrte, welche der Leitfaden zu ſeyn ſcheinen, an wel-
chem uns der allgemeine Vater der Weſen durch dieſen
Labyrinth des Lebens ſicher hindurchfuͤhren will ‒‒ ver-
wahrte er ihn vor dieſer gaͤnzlichen Ungewißheit des
Geiſtes, welche eine eben ſo groſſe Unentſchloſſenheit und
Muthloſigkeit des Willens nach ſich zieht, und dadurch
eine Quelle ſo vieler ſchaͤdlicher Folgen fuͤr die Tugend
und Religion, und alſo fuͤr die Ruhe und Gluͤkſeligkeit
unſers Lebens wird, daß der Zuſtand des bezauberte-
ſten Enthuſiaſten dem Zuſtand eines ſolchen Weiſen vor-
zuziehen iſt, der aus immerwaͤhrender Furcht zu irren,
ſich endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu ver-
neinen getraut. Jn der That gleicht die Vernunft in
dieſem Stuͤk ein wenig dem Doctor Peter Rezio von
Aguero; ſie hat gegen alles, womit unſre Seele ge-
naͤhrt werden ſoll, ſoviel einzuwenden, daß dieſe end-
lich eben ſowol aus Jnanition verſchmachten muͤßte,
wie die ungluͤklichen Statthalter der Jnſel Barataria
bey der Diaͤt, wozu ſie das verwuͤnſchte Staͤbchen ihres
allzuſcrupuloſen Leibarztes verurtheilte. Das beſte iſt
in dieſem Falle, ſich wie Sancho zu helfen. Der Jn-
ſtinct und dieſes am wenigſten betruͤgliche Gefuͤhl des
Wahren und Guten, welches die Natur allen Men-
ſchen zugetheilt hat, koͤnnen uns am beſten ſagen, woran
wir uns halten ſollen; und dahin muͤſſen, fruͤher oder
ſpaͤter, die groͤſſeſten Geiſter zuruͤkkommen, wenn ſie
nicht das Schikſal haben wollen, wie die Taube des
Altvaters Noah allenthalben herumzuflattern und nir-
gends Ruhe zu finden.

Bey
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[331/0333] Eilftes Buch, viertes Capitel. einfaͤltigen, aber deſto ſchaͤzbarern Wahrheiten zuruͤk- fuͤhrte, welche der Leitfaden zu ſeyn ſcheinen, an wel- chem uns der allgemeine Vater der Weſen durch dieſen Labyrinth des Lebens ſicher hindurchfuͤhren will ‒‒ ver- wahrte er ihn vor dieſer gaͤnzlichen Ungewißheit des Geiſtes, welche eine eben ſo groſſe Unentſchloſſenheit und Muthloſigkeit des Willens nach ſich zieht, und dadurch eine Quelle ſo vieler ſchaͤdlicher Folgen fuͤr die Tugend und Religion, und alſo fuͤr die Ruhe und Gluͤkſeligkeit unſers Lebens wird, daß der Zuſtand des bezauberte- ſten Enthuſiaſten dem Zuſtand eines ſolchen Weiſen vor- zuziehen iſt, der aus immerwaͤhrender Furcht zu irren, ſich endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu ver- neinen getraut. Jn der That gleicht die Vernunft in dieſem Stuͤk ein wenig dem Doctor Peter Rezio von Aguero; ſie hat gegen alles, womit unſre Seele ge- naͤhrt werden ſoll, ſoviel einzuwenden, daß dieſe end- lich eben ſowol aus Jnanition verſchmachten muͤßte, wie die ungluͤklichen Statthalter der Jnſel Barataria bey der Diaͤt, wozu ſie das verwuͤnſchte Staͤbchen ihres allzuſcrupuloſen Leibarztes verurtheilte. Das beſte iſt in dieſem Falle, ſich wie Sancho zu helfen. Der Jn- ſtinct und dieſes am wenigſten betruͤgliche Gefuͤhl des Wahren und Guten, welches die Natur allen Men- ſchen zugetheilt hat, koͤnnen uns am beſten ſagen, woran wir uns halten ſollen; und dahin muͤſſen, fruͤher oder ſpaͤter, die groͤſſeſten Geiſter zuruͤkkommen, wenn ſie nicht das Schikſal haben wollen, wie die Taube des Altvaters Noah allenthalben herumzuflattern und nir- gends Ruhe zu finden. Bey

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/333>, abgerufen am 25.04.2024.