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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
hatte keinen Tag vorbeygehen lassen, ohne ihm zu schrei-
ben; und die Nothwendigkeit, ihr eben so regelmässig
zu antworten, sezte ihn, nach der grossen Revolution die
in seinem Herzen vorgegangen war, in eine desto grös-
sere Verlegenheit, da er zu aufrichtig und zu lebhaft
war, Empfindungen vorzugeben, die sein Herz verläug-
nete. Seine Briefchen wurden dadurch so kurz, und
verriethen so vielen Zwang, daß Danae auf einen Ge-
danken kam, der zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber
doch der natürlichste war, der ihr einfallen konnte. Sie
vermuthete, ihre Abwesenheit könnte eine von den Schö-
nen zu Smyrna verwegen genug gemacht haben, ihr
einen so beneidenswürdigen Liebhaber entführen zu wol-
len. Wenn ihr Stolz zu einem so vermessenen Vorha-
ben lächelte; so liebte sie doch zu zärtlich, um so ruhig
dabey zu seyn, als man aus der muntern Art, womit
sie über seine Erkältung scherzte, hätte schliessen sollen.
Jndessen behielt doch das Bewustseyn ihrer Vorzüge die
Oberhand, und ließ ihr keinen Zweifel, daß es nur ihre
Gegenwart brauche, um alle Eindrüke, welche eine
Nebenbulerin auf der Oberfläche seines Herzens gemacht
haben können, wieder auszulöschen. Und wenn sie
dessen auch weniger gewiß gewesen wäre, so war sie doch
zu klug, ihn merken zu lassen, daß sie ein Mißtrauen
in sein Herz seze, oder fähig seyn könnte, sich ihm je-
mals durch eine grillenhafte Eifersucht beschwehrlich zu
machen. Bey allem dem beschleunigte dieser Umstand
ihre Zurükkunft; und der Gedanke, daß es ihr viel-

leicht

Agathon.
hatte keinen Tag vorbeygehen laſſen, ohne ihm zu ſchrei-
ben; und die Nothwendigkeit, ihr eben ſo regelmaͤſſig
zu antworten, ſezte ihn, nach der groſſen Revolution die
in ſeinem Herzen vorgegangen war, in eine deſto groͤſ-
ſere Verlegenheit, da er zu aufrichtig und zu lebhaft
war, Empfindungen vorzugeben, die ſein Herz verlaͤug-
nete. Seine Briefchen wurden dadurch ſo kurz, und
verriethen ſo vielen Zwang, daß Danae auf einen Ge-
danken kam, der zwar nicht ſehr wahrſcheinlich, aber
doch der natuͤrlichſte war, der ihr einfallen konnte. Sie
vermuthete, ihre Abweſenheit koͤnnte eine von den Schoͤ-
nen zu Smyrna verwegen genug gemacht haben, ihr
einen ſo beneidenswuͤrdigen Liebhaber entfuͤhren zu wol-
len. Wenn ihr Stolz zu einem ſo vermeſſenen Vorha-
ben laͤchelte; ſo liebte ſie doch zu zaͤrtlich, um ſo ruhig
dabey zu ſeyn, als man aus der muntern Art, womit
ſie uͤber ſeine Erkaͤltung ſcherzte, haͤtte ſchlieſſen ſollen.
Jndeſſen behielt doch das Bewuſtſeyn ihrer Vorzuͤge die
Oberhand, und ließ ihr keinen Zweifel, daß es nur ihre
Gegenwart brauche, um alle Eindruͤke, welche eine
Nebenbulerin auf der Oberflaͤche ſeines Herzens gemacht
haben koͤnnen, wieder auszuloͤſchen. Und wenn ſie
deſſen auch weniger gewiß geweſen waͤre, ſo war ſie doch
zu klug, ihn merken zu laſſen, daß ſie ein Mißtrauen
in ſein Herz ſeze, oder faͤhig ſeyn koͤnnte, ſich ihm je-
mals durch eine grillenhafte Eiferſucht beſchwehrlich zu
machen. Bey allem dem beſchleunigte dieſer Umſtand
ihre Zuruͤkkunft; und der Gedanke, daß es ihr viel-

leicht
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[38/0040] Agathon. hatte keinen Tag vorbeygehen laſſen, ohne ihm zu ſchrei- ben; und die Nothwendigkeit, ihr eben ſo regelmaͤſſig zu antworten, ſezte ihn, nach der groſſen Revolution die in ſeinem Herzen vorgegangen war, in eine deſto groͤſ- ſere Verlegenheit, da er zu aufrichtig und zu lebhaft war, Empfindungen vorzugeben, die ſein Herz verlaͤug- nete. Seine Briefchen wurden dadurch ſo kurz, und verriethen ſo vielen Zwang, daß Danae auf einen Ge- danken kam, der zwar nicht ſehr wahrſcheinlich, aber doch der natuͤrlichſte war, der ihr einfallen konnte. Sie vermuthete, ihre Abweſenheit koͤnnte eine von den Schoͤ- nen zu Smyrna verwegen genug gemacht haben, ihr einen ſo beneidenswuͤrdigen Liebhaber entfuͤhren zu wol- len. Wenn ihr Stolz zu einem ſo vermeſſenen Vorha- ben laͤchelte; ſo liebte ſie doch zu zaͤrtlich, um ſo ruhig dabey zu ſeyn, als man aus der muntern Art, womit ſie uͤber ſeine Erkaͤltung ſcherzte, haͤtte ſchlieſſen ſollen. Jndeſſen behielt doch das Bewuſtſeyn ihrer Vorzuͤge die Oberhand, und ließ ihr keinen Zweifel, daß es nur ihre Gegenwart brauche, um alle Eindruͤke, welche eine Nebenbulerin auf der Oberflaͤche ſeines Herzens gemacht haben koͤnnen, wieder auszuloͤſchen. Und wenn ſie deſſen auch weniger gewiß geweſen waͤre, ſo war ſie doch zu klug, ihn merken zu laſſen, daß ſie ein Mißtrauen in ſein Herz ſeze, oder faͤhig ſeyn koͤnnte, ſich ihm je- mals durch eine grillenhafte Eiferſucht beſchwehrlich zu machen. Bey allem dem beſchleunigte dieſer Umſtand ihre Zuruͤkkunft; und der Gedanke, daß es ihr viel- leicht

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/40>, abgerufen am 19.04.2024.