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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, viertes Capitel.
ses seyn würden? Glaubst du, du würdest deine Frey-
heit behalten, oder nicht vielmehr ein Sclave dessen wer-
den, was du liebest? wirst du nicht vielen Aufwand
auf schädliche Wollüste machen? Meynst du, es werde
dir viel Musse übrig bleiben, dich um irgend etwas gros-
ses und Nüzliches zu bekümmern, oder du werdest nicht
vielmehr gezwungen seyn, deine Zeit auf Beschäftigun-
gen zu wenden, deren sich so gar ein Unsinniger schämen
würde? -- Man kan die Folgen dieser Art von
Liebe, in so wenigen Worten nicht vollständiger beschrei-
ben -- Was hälf' es uns, meine Freunde, wenn
wir uns selbst betrügen wollten? Selbst die unschul-
digste Liebe, selbst diejenige, welche in jungen enthu-
siastischen Seelen so schön mit der Tugend zusammen zu-
stimmen scheint, führt ein schleichendes Gift bey sich,
dessen Würkungen nur desto gefährlicher sind, weil es
langsam und durch unmerkliche Grade würkt --
Was ist also zu thun? -- Der Rath des alten
Cato, oder der, welchen Lucrez nach den Grundsäzen
seiner Secte giebt, ist, seinen Folgen nach, noch schlim-
mer als das Uebel selbst. So gar die Grundsäze und
das eigne Beyspiel des weisen Socrates sind in diesem
Stüke nur unter gewissen Umständen thunlich --
und (wenn wir nach unsrer Ueberzeugung reden sollen)
wir wünschten, aus wahrer Wohlmeynenheit gegen das
allgemeine System, nichts weniger als daß es jemals
einem Socrates gelingen möchte, den Amor völlig zu
entgöttern, seiner Schwingen und seiner Pfeile zu be-

rauben,

Achtes Buch, viertes Capitel.
ſes ſeyn wuͤrden? Glaubſt du, du wuͤrdeſt deine Frey-
heit behalten, oder nicht vielmehr ein Sclave deſſen wer-
den, was du liebeſt? wirſt du nicht vielen Aufwand
auf ſchaͤdliche Wolluͤſte machen? Meynſt du, es werde
dir viel Muſſe uͤbrig bleiben, dich um irgend etwas groſ-
ſes und Nuͤzliches zu bekuͤmmern, oder du werdeſt nicht
vielmehr gezwungen ſeyn, deine Zeit auf Beſchaͤftigun-
gen zu wenden, deren ſich ſo gar ein Unſinniger ſchaͤmen
wuͤrde? — Man kan die Folgen dieſer Art von
Liebe, in ſo wenigen Worten nicht vollſtaͤndiger beſchrei-
ben — Was haͤlf’ es uns, meine Freunde, wenn
wir uns ſelbſt betruͤgen wollten? Selbſt die unſchul-
digſte Liebe, ſelbſt diejenige, welche in jungen enthu-
ſiaſtiſchen Seelen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſammen zu-
ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes Gift bey ſich,
deſſen Wuͤrkungen nur deſto gefaͤhrlicher ſind, weil es
langſam und durch unmerkliche Grade wuͤrkt —
Was iſt alſo zu thun? — Der Rath des alten
Cato, oder der, welchen Lucrez nach den Grundſaͤzen
ſeiner Secte giebt, iſt, ſeinen Folgen nach, noch ſchlim-
mer als das Uebel ſelbſt. So gar die Grundſaͤze und
das eigne Beyſpiel des weiſen Socrates ſind in dieſem
Stuͤke nur unter gewiſſen Umſtaͤnden thunlich —
und (wenn wir nach unſrer Ueberzeugung reden ſollen)
wir wuͤnſchten, aus wahrer Wohlmeynenheit gegen das
allgemeine Syſtem, nichts weniger als daß es jemals
einem Socrates gelingen moͤchte, den Amor voͤllig zu
entgoͤttern, ſeiner Schwingen und ſeiner Pfeile zu be-

rauben,
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[45/0047] Achtes Buch, viertes Capitel. ſes ſeyn wuͤrden? Glaubſt du, du wuͤrdeſt deine Frey- heit behalten, oder nicht vielmehr ein Sclave deſſen wer- den, was du liebeſt? wirſt du nicht vielen Aufwand auf ſchaͤdliche Wolluͤſte machen? Meynſt du, es werde dir viel Muſſe uͤbrig bleiben, dich um irgend etwas groſ- ſes und Nuͤzliches zu bekuͤmmern, oder du werdeſt nicht vielmehr gezwungen ſeyn, deine Zeit auf Beſchaͤftigun- gen zu wenden, deren ſich ſo gar ein Unſinniger ſchaͤmen wuͤrde? — Man kan die Folgen dieſer Art von Liebe, in ſo wenigen Worten nicht vollſtaͤndiger beſchrei- ben — Was haͤlf’ es uns, meine Freunde, wenn wir uns ſelbſt betruͤgen wollten? Selbſt die unſchul- digſte Liebe, ſelbſt diejenige, welche in jungen enthu- ſiaſtiſchen Seelen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſammen zu- ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes Gift bey ſich, deſſen Wuͤrkungen nur deſto gefaͤhrlicher ſind, weil es langſam und durch unmerkliche Grade wuͤrkt — Was iſt alſo zu thun? — Der Rath des alten Cato, oder der, welchen Lucrez nach den Grundſaͤzen ſeiner Secte giebt, iſt, ſeinen Folgen nach, noch ſchlim- mer als das Uebel ſelbſt. So gar die Grundſaͤze und das eigne Beyſpiel des weiſen Socrates ſind in dieſem Stuͤke nur unter gewiſſen Umſtaͤnden thunlich — und (wenn wir nach unſrer Ueberzeugung reden ſollen) wir wuͤnſchten, aus wahrer Wohlmeynenheit gegen das allgemeine Syſtem, nichts weniger als daß es jemals einem Socrates gelingen moͤchte, den Amor voͤllig zu entgoͤttern, ſeiner Schwingen und ſeiner Pfeile zu be- rauben,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/47>, abgerufen am 29.03.2024.