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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, zweytes Capitel.
Lehre er ein so grosser Bewunderer war, sehr vieles
dazu beygetragen, daß er weniger als ein Andrer, der
nicht nach so sehr abgezogenen Grundsäzen gehandelt
hätte, zum Arzt eines äusserst verdorbenen Volkes geeigen-
schaftet war. Vielfältige Erfahrungen zu verschiedenen
Zeiten und unter verschiedenen Völkern haben es gewie-
sen, daß die Dion, die Caton, die Brutus, die Alger-
non Sidney allemal unglüklich seyn werden, wenn sie
einen von alten bößartigen Schaden entkräfteten und
zerfressenen Staats-Körper in den Stand der Gesund-
heit wieder herzustellen versuchen. Zu einer solchen
Operation gehören viele Gehülfen; und Männer von
einer so ausserordentlichen Art sind unter einer Million
Menschen allein: Es ist genug, wenn das Ziel, wie So-
lon von seinen Gesezen sagte, das Beste ist, das in den
vorliegenden Umständen zu erreichen seyn mag; und Sie
wollen immer das Beste, das sich denken läßt: Alle
Mittel welche zugleich am gewissesten und bäldesten zu
diesem Ziel führen, sind die Besten; und sie wollen
keine andre gebrauchen, als welche nach den strengesten
Regeln einer oft allzuspizfündigen Gerechtigkeit und Güte,
rechtmässig und gut sind. Löblich, vortreflich, gött-
lich! --- ruffen die schwärmerischen Bewunderer der
heroischen Tugend --- wir wollten gerne mitruffen, wenn
man uns nur erst zeigen wollte, was diese hochgetrie-
bene Tugend dem menschlichen Geschlecht jemals gehol-
fen habe -- Dion zum Exempel, von den erhabenen
Jdeen seines Lehrmeisters eingenommen, wollte dem be-
freyten Syracus eine Regierungs-Form geben, welche

so
[Agath. II. Th.] G

Neuntes Buch, zweytes Capitel.
Lehre er ein ſo groſſer Bewunderer war, ſehr vieles
dazu beygetragen, daß er weniger als ein Andrer, der
nicht nach ſo ſehr abgezogenen Grundſaͤzen gehandelt
haͤtte, zum Arzt eines aͤuſſerſt verdorbenen Volkes geeigen-
ſchaftet war. Vielfaͤltige Erfahrungen zu verſchiedenen
Zeiten und unter verſchiedenen Voͤlkern haben es gewie-
ſen, daß die Dion, die Caton, die Brutus, die Alger-
non Sidney allemal ungluͤklich ſeyn werden, wenn ſie
einen von alten boͤßartigen Schaden entkraͤfteten und
zerfreſſenen Staats-Koͤrper in den Stand der Geſund-
heit wieder herzuſtellen verſuchen. Zu einer ſolchen
Operation gehoͤren viele Gehuͤlfen; und Maͤnner von
einer ſo auſſerordentlichen Art ſind unter einer Million
Menſchen allein: Es iſt genug, wenn das Ziel, wie So-
lon von ſeinen Geſezen ſagte, das Beſte iſt, das in den
vorliegenden Umſtaͤnden zu erreichen ſeyn mag; und Sie
wollen immer das Beſte, das ſich denken laͤßt: Alle
Mittel welche zugleich am gewiſſeſten und baͤldeſten zu
dieſem Ziel fuͤhren, ſind die Beſten; und ſie wollen
keine andre gebrauchen, als welche nach den ſtrengeſten
Regeln einer oft allzuſpizfuͤndigen Gerechtigkeit und Guͤte,
rechtmaͤſſig und gut ſind. Loͤblich, vortreflich, goͤtt-
lich! ‒‒‒ ruffen die ſchwaͤrmeriſchen Bewunderer der
heroiſchen Tugend ‒‒‒ wir wollten gerne mitruffen, wenn
man uns nur erſt zeigen wollte, was dieſe hochgetrie-
bene Tugend dem menſchlichen Geſchlecht jemals gehol-
fen habe ‒‒ Dion zum Exempel, von den erhabenen
Jdeen ſeines Lehrmeiſters eingenommen, wollte dem be-
freyten Syracus eine Regierungs-Form geben, welche

ſo
[Agath. II. Th.] G
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[97/0099] Neuntes Buch, zweytes Capitel. Lehre er ein ſo groſſer Bewunderer war, ſehr vieles dazu beygetragen, daß er weniger als ein Andrer, der nicht nach ſo ſehr abgezogenen Grundſaͤzen gehandelt haͤtte, zum Arzt eines aͤuſſerſt verdorbenen Volkes geeigen- ſchaftet war. Vielfaͤltige Erfahrungen zu verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Voͤlkern haben es gewie- ſen, daß die Dion, die Caton, die Brutus, die Alger- non Sidney allemal ungluͤklich ſeyn werden, wenn ſie einen von alten boͤßartigen Schaden entkraͤfteten und zerfreſſenen Staats-Koͤrper in den Stand der Geſund- heit wieder herzuſtellen verſuchen. Zu einer ſolchen Operation gehoͤren viele Gehuͤlfen; und Maͤnner von einer ſo auſſerordentlichen Art ſind unter einer Million Menſchen allein: Es iſt genug, wenn das Ziel, wie So- lon von ſeinen Geſezen ſagte, das Beſte iſt, das in den vorliegenden Umſtaͤnden zu erreichen ſeyn mag; und Sie wollen immer das Beſte, das ſich denken laͤßt: Alle Mittel welche zugleich am gewiſſeſten und baͤldeſten zu dieſem Ziel fuͤhren, ſind die Beſten; und ſie wollen keine andre gebrauchen, als welche nach den ſtrengeſten Regeln einer oft allzuſpizfuͤndigen Gerechtigkeit und Guͤte, rechtmaͤſſig und gut ſind. Loͤblich, vortreflich, goͤtt- lich! ‒‒‒ ruffen die ſchwaͤrmeriſchen Bewunderer der heroiſchen Tugend ‒‒‒ wir wollten gerne mitruffen, wenn man uns nur erſt zeigen wollte, was dieſe hochgetrie- bene Tugend dem menſchlichen Geſchlecht jemals gehol- fen habe ‒‒ Dion zum Exempel, von den erhabenen Jdeen ſeines Lehrmeiſters eingenommen, wollte dem be- freyten Syracus eine Regierungs-Form geben, welche ſo [Agath. II. Th.] G

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/99>, abgerufen am 28.03.2024.