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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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10.
ZWECK UND BEDEUTUNG DES ARISTOTELISCHEN
BUCHES.

Was ist die
Politie?
Wir hatten uns in unsern träumen dieses buch gewünscht, auf dass
wir eine authentische belehrung darüber erhielten, was der athenische
staat gewesen sei. wir mussten so oft mehrdeutige auszüge daraus als
die beste überlieferung anerkennen, wir waren gewohnt, in Aristoteles den
unvergleichlichen an wissen und an urteil zu verehren, dass der wunsch
sich mit notwendigkeit einstellte: o dass er doch zu uns sprechen könnte.
der traum ist wahrheit geworden: er spricht zu uns. als das neue licht
erschien, musste jeder zunächst geblendet sein; bald aber, unheimlich
bald, wurden die verschiedensten urteile laut. sie waren durch drei fac-
toren gebildet, alle von einem stark subjectiven charakter, den eindruck
des neuen buches, die autorität des verfassernamens und die vorstellung,
die sich der urteilende von der attischen geschichte vorher gebildet
hatte. durch die combination so variabler factoren lassen sich noch
eine anzahl anderer wahrsprüche über das neue buch gewinnen; aber
die vorliegenden könnten genügen, um einem von fern herantretenden
das ganze buch zu verekeln. was sowol als eitel gold wie als eitel kot
bezeichnet werden kann, wird wol überhaupt nichts besonderes sein.
dem gegenüber verlangte die wissenschaft zunächst, das buch wie es
ist zu verstehen. der erste text konnte nur ein provisorischer sein;
die erste übersetzung war es noch mehr: trotzdem formulirten schnell-
fertige historiker ihr urteil. was auf solchem boden errichtet wird,
braucht man nicht erst anzugreifen, das fällt von selbst ein. also die
textkritik war die erste aufgabe. dann kam die zweite, die berichte des
Aristoteles auf ihre herkunft zu untersuchen, womit die frage nach
ihrer qualität nicht notwendig, aber tatsächlich verbunden ist. denn
es zeigte sich bald, dass in diesem buche wirklich geschichtliche for-
schung so gut wie gar nicht steckt, also nicht Aristoteles, sondern

10.
ZWECK UND BEDEUTUNG DES ARISTOTELISCHEN
BUCHES.

Was ist die
Politie?
Wir hatten uns in unsern träumen dieses buch gewünscht, auf daſs
wir eine authentische belehrung darüber erhielten, was der athenische
staat gewesen sei. wir muſsten so oft mehrdeutige auszüge daraus als
die beste überlieferung anerkennen, wir waren gewohnt, in Aristoteles den
unvergleichlichen an wissen und an urteil zu verehren, daſs der wunsch
sich mit notwendigkeit einstellte: o daſs er doch zu uns sprechen könnte.
der traum ist wahrheit geworden: er spricht zu uns. als das neue licht
erschien, muſste jeder zunächst geblendet sein; bald aber, unheimlich
bald, wurden die verschiedensten urteile laut. sie waren durch drei fac-
toren gebildet, alle von einem stark subjectiven charakter, den eindruck
des neuen buches, die autorität des verfassernamens und die vorstellung,
die sich der urteilende von der attischen geschichte vorher gebildet
hatte. durch die combination so variabler factoren lassen sich noch
eine anzahl anderer wahrsprüche über das neue buch gewinnen; aber
die vorliegenden könnten genügen, um einem von fern herantretenden
das ganze buch zu verekeln. was sowol als eitel gold wie als eitel kot
bezeichnet werden kann, wird wol überhaupt nichts besonderes sein.
dem gegenüber verlangte die wissenschaft zunächst, das buch wie es
ist zu verstehen. der erste text konnte nur ein provisorischer sein;
die erste übersetzung war es noch mehr: trotzdem formulirten schnell-
fertige historiker ihr urteil. was auf solchem boden errichtet wird,
braucht man nicht erst anzugreifen, das fällt von selbst ein. also die
textkritik war die erste aufgabe. dann kam die zweite, die berichte des
Aristoteles auf ihre herkunft zu untersuchen, womit die frage nach
ihrer qualität nicht notwendig, aber tatsächlich verbunden ist. denn
es zeigte sich bald, daſs in diesem buche wirklich geschichtliche for-
schung so gut wie gar nicht steckt, also nicht Aristoteles, sondern

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[[308]/0322] 10. ZWECK UND BEDEUTUNG DES ARISTOTELISCHEN BUCHES. Wir hatten uns in unsern träumen dieses buch gewünscht, auf daſs wir eine authentische belehrung darüber erhielten, was der athenische staat gewesen sei. wir muſsten so oft mehrdeutige auszüge daraus als die beste überlieferung anerkennen, wir waren gewohnt, in Aristoteles den unvergleichlichen an wissen und an urteil zu verehren, daſs der wunsch sich mit notwendigkeit einstellte: o daſs er doch zu uns sprechen könnte. der traum ist wahrheit geworden: er spricht zu uns. als das neue licht erschien, muſste jeder zunächst geblendet sein; bald aber, unheimlich bald, wurden die verschiedensten urteile laut. sie waren durch drei fac- toren gebildet, alle von einem stark subjectiven charakter, den eindruck des neuen buches, die autorität des verfassernamens und die vorstellung, die sich der urteilende von der attischen geschichte vorher gebildet hatte. durch die combination so variabler factoren lassen sich noch eine anzahl anderer wahrsprüche über das neue buch gewinnen; aber die vorliegenden könnten genügen, um einem von fern herantretenden das ganze buch zu verekeln. was sowol als eitel gold wie als eitel kot bezeichnet werden kann, wird wol überhaupt nichts besonderes sein. dem gegenüber verlangte die wissenschaft zunächst, das buch wie es ist zu verstehen. der erste text konnte nur ein provisorischer sein; die erste übersetzung war es noch mehr: trotzdem formulirten schnell- fertige historiker ihr urteil. was auf solchem boden errichtet wird, braucht man nicht erst anzugreifen, das fällt von selbst ein. also die textkritik war die erste aufgabe. dann kam die zweite, die berichte des Aristoteles auf ihre herkunft zu untersuchen, womit die frage nach ihrer qualität nicht notwendig, aber tatsächlich verbunden ist. denn es zeigte sich bald, daſs in diesem buche wirklich geschichtliche for- schung so gut wie gar nicht steckt, also nicht Aristoteles, sondern Was ist die Politie?

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. [308]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/322>, abgerufen am 25.04.2024.