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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Was ist die Politie?
seine gewährsmänner die verantwortung für den inhalt tragen, er nur
für die auswahl jener gewährsmänner, und es sind deren darunter,
die es mit der wahrheit leicht genommen haben, die er also nicht
hätte heranziehen dürfen, wenn er es mit der geschichtlichen forschung
ernster genommen hätte. gerade das was so sehr neu und über-
raschend in dem buche ist, ist es zumeist deshalb für uns gewesen,
weil ihm schon die schüler des Aristoteles wegen seiner herkunft oder
seines inhaltes nicht getraut haben. die arbeit der analyse ist nun auch
geschehen. es könnte scheinen, als wären wir fertig und ich brauchte
höchstens stilistisch noch eine recapitulation. vielleicht machte es sich
gut, mit einem überlegenen 'du hast nichts als eine compilation ge-
liefert; du bist gewogen und zu leicht befunden: ein historiker bist du
nicht' den grossen philosophen zu entlassen wie einen schulknaben. ge-
wiss, es ist wichtig und ist wahr, dass er kein historiker gewesen ist,
in dem sinne wie Herodotos oder Thukydides oder Polybios diesen namen
verdienen. gewiss gilt fortan die regel, du sollst auch bei einer aristo-
telischen nachricht nach ihrem wirklichen gewährsmann fragen, sein
urteil ist durchaus nicht entscheidend. aber mit dem buche sind wir
mit nichten zu ende. man braucht es doch nur zu lesen, wieder einmal
frisch sich dem erquickenden sprudel dieses silberklaren periodenstromes
hinzugeben, um recht bescheiden von dem zu denken, was die quellen-
analyse eigentlich von dem schriftstellerruhme abbricht. dies buch will
etwas und wirkt etwas; meiner empfindung nach erreicht es das auch.
es will in dem leser ein urteil über die verfassung erzeugen, die es be-
schreibt, und zwar um überhaupt politisches urteil in ihm zu erzeugen.
die geschichtliche belehrung ist nicht der zweck: sonst würde doch etwas
mehr davon geboten sein; es wird vielmehr vorausgesetzt, dass der leser
von der geschichte im ganzen unterrichtet sei, den Herodotos kenne
und latente polemik gegen ihn und Thukydides verstehe. eine dogmatik
der verfassung ist auch nicht der zweck: sonst würde nicht so viel des
wichtigsten fehlen. wenn von sehr vielen beamten der kreis ihrer ob-
liegenheiten gar nicht angegeben wird, oder ein par unwesentliche, aber
aus irgend einem grunde bemerkenswerte punkte allein angeführt werden,
so liegt darin, dass auf leser gerechnet wird, für die der name des amtes
genügt, um seine bedeutung in das gedächtnis zu rufen. auf einen
solchen leserkreis ist das buch berechnet, und diesen kreis denkt sich
Aristoteles sehr weit. denn der umfang und die stilistische form des
buches zeigen, dass es für alle gebildeten geschrieben ist. wir haben
uns geirrt, wenn wir früher nur eine stoffsammlung in den Politien such-

Was ist die Politie?
seine gewährsmänner die verantwortung für den inhalt tragen, er nur
für die auswahl jener gewährsmänner, und es sind deren darunter,
die es mit der wahrheit leicht genommen haben, die er also nicht
hätte heranziehen dürfen, wenn er es mit der geschichtlichen forschung
ernster genommen hätte. gerade das was so sehr neu und über-
raschend in dem buche ist, ist es zumeist deshalb für uns gewesen,
weil ihm schon die schüler des Aristoteles wegen seiner herkunft oder
seines inhaltes nicht getraut haben. die arbeit der analyse ist nun auch
geschehen. es könnte scheinen, als wären wir fertig und ich brauchte
höchstens stilistisch noch eine recapitulation. vielleicht machte es sich
gut, mit einem überlegenen ‘du hast nichts als eine compilation ge-
liefert; du bist gewogen und zu leicht befunden: ein historiker bist du
nicht’ den groſsen philosophen zu entlassen wie einen schulknaben. ge-
wiſs, es ist wichtig und ist wahr, daſs er kein historiker gewesen ist,
in dem sinne wie Herodotos oder Thukydides oder Polybios diesen namen
verdienen. gewiſs gilt fortan die regel, du sollst auch bei einer aristo-
telischen nachricht nach ihrem wirklichen gewährsmann fragen, sein
urteil ist durchaus nicht entscheidend. aber mit dem buche sind wir
mit nichten zu ende. man braucht es doch nur zu lesen, wieder einmal
frisch sich dem erquickenden sprudel dieses silberklaren periodenstromes
hinzugeben, um recht bescheiden von dem zu denken, was die quellen-
analyse eigentlich von dem schriftstellerruhme abbricht. dies buch will
etwas und wirkt etwas; meiner empfindung nach erreicht es das auch.
es will in dem leser ein urteil über die verfassung erzeugen, die es be-
schreibt, und zwar um überhaupt politisches urteil in ihm zu erzeugen.
die geschichtliche belehrung ist nicht der zweck: sonst würde doch etwas
mehr davon geboten sein; es wird vielmehr vorausgesetzt, daſs der leser
von der geschichte im ganzen unterrichtet sei, den Herodotos kenne
und latente polemik gegen ihn und Thukydides verstehe. eine dogmatik
der verfassung ist auch nicht der zweck: sonst würde nicht so viel des
wichtigsten fehlen. wenn von sehr vielen beamten der kreis ihrer ob-
liegenheiten gar nicht angegeben wird, oder ein par unwesentliche, aber
aus irgend einem grunde bemerkenswerte punkte allein angeführt werden,
so liegt darin, daſs auf leser gerechnet wird, für die der name des amtes
genügt, um seine bedeutung in das gedächtnis zu rufen. auf einen
solchen leserkreis ist das buch berechnet, und diesen kreis denkt sich
Aristoteles sehr weit. denn der umfang und die stilistische form des
buches zeigen, daſs es für alle gebildeten geschrieben ist. wir haben
uns geirrt, wenn wir früher nur eine stoffsammlung in den Politien such-

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[309/0323] Was ist die Politie? seine gewährsmänner die verantwortung für den inhalt tragen, er nur für die auswahl jener gewährsmänner, und es sind deren darunter, die es mit der wahrheit leicht genommen haben, die er also nicht hätte heranziehen dürfen, wenn er es mit der geschichtlichen forschung ernster genommen hätte. gerade das was so sehr neu und über- raschend in dem buche ist, ist es zumeist deshalb für uns gewesen, weil ihm schon die schüler des Aristoteles wegen seiner herkunft oder seines inhaltes nicht getraut haben. die arbeit der analyse ist nun auch geschehen. es könnte scheinen, als wären wir fertig und ich brauchte höchstens stilistisch noch eine recapitulation. vielleicht machte es sich gut, mit einem überlegenen ‘du hast nichts als eine compilation ge- liefert; du bist gewogen und zu leicht befunden: ein historiker bist du nicht’ den groſsen philosophen zu entlassen wie einen schulknaben. ge- wiſs, es ist wichtig und ist wahr, daſs er kein historiker gewesen ist, in dem sinne wie Herodotos oder Thukydides oder Polybios diesen namen verdienen. gewiſs gilt fortan die regel, du sollst auch bei einer aristo- telischen nachricht nach ihrem wirklichen gewährsmann fragen, sein urteil ist durchaus nicht entscheidend. aber mit dem buche sind wir mit nichten zu ende. man braucht es doch nur zu lesen, wieder einmal frisch sich dem erquickenden sprudel dieses silberklaren periodenstromes hinzugeben, um recht bescheiden von dem zu denken, was die quellen- analyse eigentlich von dem schriftstellerruhme abbricht. dies buch will etwas und wirkt etwas; meiner empfindung nach erreicht es das auch. es will in dem leser ein urteil über die verfassung erzeugen, die es be- schreibt, und zwar um überhaupt politisches urteil in ihm zu erzeugen. die geschichtliche belehrung ist nicht der zweck: sonst würde doch etwas mehr davon geboten sein; es wird vielmehr vorausgesetzt, daſs der leser von der geschichte im ganzen unterrichtet sei, den Herodotos kenne und latente polemik gegen ihn und Thukydides verstehe. eine dogmatik der verfassung ist auch nicht der zweck: sonst würde nicht so viel des wichtigsten fehlen. wenn von sehr vielen beamten der kreis ihrer ob- liegenheiten gar nicht angegeben wird, oder ein par unwesentliche, aber aus irgend einem grunde bemerkenswerte punkte allein angeführt werden, so liegt darin, daſs auf leser gerechnet wird, für die der name des amtes genügt, um seine bedeutung in das gedächtnis zu rufen. auf einen solchen leserkreis ist das buch berechnet, und diesen kreis denkt sich Aristoteles sehr weit. denn der umfang und die stilistische form des buches zeigen, daſs es für alle gebildeten geschrieben ist. wir haben uns geirrt, wenn wir früher nur eine stoffsammlung in den Politien such-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/323>, abgerufen am 24.04.2024.