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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Herkunft des berichtes. die bürgerschaft.
drakontischen verfassung diesen oligarchischen gewährsmännern ver-
dankt. da man ihnen ebensowol die kenntnis einer in der demokrati-
schen überlieferung zu gunsten Solons vergessenen verfassung zutrauen
kann wie den mut einer tendentiösen erfindung, so hilft uns diese einsicht
in die herkunft des berichtes nicht einmal zu einem praejudiz über
seine innere glaubwürdigkeit.

Dass Aristoteles die verfassung entlehnt, zeigt die form seiner rede,
da er zum teil im accusativ mit infinitiv spricht, was man unmöglich auf
die oft entsprechend stilisirten gesetze selbst zurückführen kann. ein
wirkliches actenstück liegt auch nirgend zu grunde, geschweige denn
eins aus dem siebenten jahrhundert, denn wenn auch die sprache natür-
lich bestes attisch ist, so fehlt doch nicht nur alles archaische, sondern
selbst eine jede spur, die so deutlich wie oben polis und kataphatizein
für das fünfte jahrhundert zeugnis ablegte.3) es ist ja auch gar nicht
denkbar, dass auf den gesetzestafeln Drakons, die bis ans ende des fünften
jahrhunderts existirt haben, eine solche sammlung von bestimmten ver-
fassungsgesetzen vereint gestanden hätte. wenn der bericht auf wahr-
heit beruht, so hat sein urheber die für das allgemeine giltigen sätze aus
den einzelbestimmungen der gesetze für die magistrate herausgesucht
und zusammengefasst.4) Aristoteles mag ja gekürzt haben; aber es ist
unter diesen umständen sehr wahrscheinlich, dass er manches nicht fand,
was er gern gewusst hätte. wir wollen uns also hüten, ihn zu schelten,
wenn er uns viele fragen nicht beantwortet, die wir auf den lippen
haben; er hat wol eher manches mitgeteilt, was er schwerlich selbst
ganz verstand, eben weil die sachen so sehr merkwürdig waren.5)

Am ende sind wir doch allein auf die inhaltliche prüfung der ver-
fassung selbst angewiesen. dass die oligarchen von parteiinteresse ge-
blendet waren, mag gegen, dass Aristoteles ihr glauben geschenkt hat,
für dieselbe sprechen: schliesslich muss sie über sich selbst ent-
scheiden.

Die beteiligung an den staatsgeschäften ist auf diejenigen beschränkt,Die bürger-
schaft.

die sich selbst equipiren können.6) da hören wir in dem ausdrucke

3) Selbst das seltene enos braucht Aristoteles nicht nur hier, sondern auch in
der Politik Z 1322a 12 und Theophrast bei Athenaeus 77 f. dagegen hat ousia
zu Drakons zeiten keinesfalls schon existirt.
4) Vgl. was im 7. capitel über die form der verfassungsgesetze gezeigt wird.
5) Ganz ebenso hat es Aristoteles mit dem verzeichnis der 20000 sold em-
pfangenden Athener gehalten, vgl. das capitel '3000 hopliten von Acharnai'.
6) Das plusquamperfectum apededoto kann an sich bedeuten, dass dieser zu-

Herkunft des berichtes. die bürgerschaft.
drakontischen verfassung diesen oligarchischen gewährsmännern ver-
dankt. da man ihnen ebensowol die kenntnis einer in der demokrati-
schen überlieferung zu gunsten Solons vergessenen verfassung zutrauen
kann wie den mut einer tendentiösen erfindung, so hilft uns diese einsicht
in die herkunft des berichtes nicht einmal zu einem praejudiz über
seine innere glaubwürdigkeit.

Daſs Aristoteles die verfassung entlehnt, zeigt die form seiner rede,
da er zum teil im accusativ mit infinitiv spricht, was man unmöglich auf
die oft entsprechend stilisirten gesetze selbst zurückführen kann. ein
wirkliches actenstück liegt auch nirgend zu grunde, geschweige denn
eins aus dem siebenten jahrhundert, denn wenn auch die sprache natür-
lich bestes attisch ist, so fehlt doch nicht nur alles archaische, sondern
selbst eine jede spur, die so deutlich wie oben πόλις und καταφατίζειν
für das fünfte jahrhundert zeugnis ablegte.3) es ist ja auch gar nicht
denkbar, daſs auf den gesetzestafeln Drakons, die bis ans ende des fünften
jahrhunderts existirt haben, eine solche sammlung von bestimmten ver-
fassungsgesetzen vereint gestanden hätte. wenn der bericht auf wahr-
heit beruht, so hat sein urheber die für das allgemeine giltigen sätze aus
den einzelbestimmungen der gesetze für die magistrate herausgesucht
und zusammengefaſst.4) Aristoteles mag ja gekürzt haben; aber es ist
unter diesen umständen sehr wahrscheinlich, daſs er manches nicht fand,
was er gern gewuſst hätte. wir wollen uns also hüten, ihn zu schelten,
wenn er uns viele fragen nicht beantwortet, die wir auf den lippen
haben; er hat wol eher manches mitgeteilt, was er schwerlich selbst
ganz verstand, eben weil die sachen so sehr merkwürdig waren.5)

Am ende sind wir doch allein auf die inhaltliche prüfung der ver-
fassung selbst angewiesen. daſs die oligarchen von parteiinteresse ge-
blendet waren, mag gegen, daſs Aristoteles ihr glauben geschenkt hat,
für dieselbe sprechen: schlieſslich muſs sie über sich selbst ent-
scheiden.

Die beteiligung an den staatsgeschäften ist auf diejenigen beschränkt,Die bürger-
schaft.

die sich selbst equipiren können.6) da hören wir in dem ausdrucke

3) Selbst das seltene ἕνος braucht Aristoteles nicht nur hier, sondern auch in
der Politik Z 1322a 12 und Theophrast bei Athenaeus 77 f. dagegen hat οὐσία
zu Drakons zeiten keinesfalls schon existirt.
4) Vgl. was im 7. capitel über die form der verfassungsgesetze gezeigt wird.
5) Ganz ebenso hat es Aristoteles mit dem verzeichnis der 20000 sold em-
pfangenden Athener gehalten, vgl. das capitel ‘3000 hopliten von Acharnai’.
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[77/0091] Herkunft des berichtes. die bürgerschaft. drakontischen verfassung diesen oligarchischen gewährsmännern ver- dankt. da man ihnen ebensowol die kenntnis einer in der demokrati- schen überlieferung zu gunsten Solons vergessenen verfassung zutrauen kann wie den mut einer tendentiösen erfindung, so hilft uns diese einsicht in die herkunft des berichtes nicht einmal zu einem praejudiz über seine innere glaubwürdigkeit. Daſs Aristoteles die verfassung entlehnt, zeigt die form seiner rede, da er zum teil im accusativ mit infinitiv spricht, was man unmöglich auf die oft entsprechend stilisirten gesetze selbst zurückführen kann. ein wirkliches actenstück liegt auch nirgend zu grunde, geschweige denn eins aus dem siebenten jahrhundert, denn wenn auch die sprache natür- lich bestes attisch ist, so fehlt doch nicht nur alles archaische, sondern selbst eine jede spur, die so deutlich wie oben πόλις und καταφατίζειν für das fünfte jahrhundert zeugnis ablegte. 3) es ist ja auch gar nicht denkbar, daſs auf den gesetzestafeln Drakons, die bis ans ende des fünften jahrhunderts existirt haben, eine solche sammlung von bestimmten ver- fassungsgesetzen vereint gestanden hätte. wenn der bericht auf wahr- heit beruht, so hat sein urheber die für das allgemeine giltigen sätze aus den einzelbestimmungen der gesetze für die magistrate herausgesucht und zusammengefaſst. 4) Aristoteles mag ja gekürzt haben; aber es ist unter diesen umständen sehr wahrscheinlich, daſs er manches nicht fand, was er gern gewuſst hätte. wir wollen uns also hüten, ihn zu schelten, wenn er uns viele fragen nicht beantwortet, die wir auf den lippen haben; er hat wol eher manches mitgeteilt, was er schwerlich selbst ganz verstand, eben weil die sachen so sehr merkwürdig waren. 5) Am ende sind wir doch allein auf die inhaltliche prüfung der ver- fassung selbst angewiesen. daſs die oligarchen von parteiinteresse ge- blendet waren, mag gegen, daſs Aristoteles ihr glauben geschenkt hat, für dieselbe sprechen: schlieſslich muſs sie über sich selbst ent- scheiden. Die beteiligung an den staatsgeschäften ist auf diejenigen beschränkt, die sich selbst equipiren können. 6) da hören wir in dem ausdrucke Die bürger- schaft. 3) Selbst das seltene ἕνος braucht Aristoteles nicht nur hier, sondern auch in der Politik Z 1322a 12 und Theophrast bei Athenaeus 77 f. dagegen hat οὐσία zu Drakons zeiten keinesfalls schon existirt. 4) Vgl. was im 7. capitel über die form der verfassungsgesetze gezeigt wird. 5) Ganz ebenso hat es Aristoteles mit dem verzeichnis der 20000 sold em- pfangenden Athener gehalten, vgl. das capitel ‘3000 hopliten von Acharnai’. 6) Das plusquamperfectum ἀπεδέδοτο kann an sich bedeuten, daſs dieser zu-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/91>, abgerufen am 29.03.2024.