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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Perikles.
losen forschernatur des Anaxagoras, der einsam lebte, wie er selbst. bei
dem lernte er die weltauffassung, die den zweck des lebens in die anschau-
ung des unendlichen kosmos, der ordnung und der schönheit des alls, ver-
legt, und dem entsprechend dem individuum gebeut, zugleich sich in die
eigene sterblichkeit zu schicken und die ewigkeit in der seele zu tragen
(athanata phronein). weil sie aus der tiefe einer denkgewohnten seele
quoll, riss seine ernste beredsamkeit die menge fort, auch wo sie sie nicht
verstand, und die fassung, die er bei seinem trüben einsamen ende
bewahrte, hat dem Protagoras worte der bewunderung abgenötigt. aber
er war doch weit entfernt von diesen männern des theoretikos bios,
und der kosmos, dem er diente, und den er zu verwirklichen strebte,
war die freiheit und die herrschaft seines volkes. an die logik der de-
mokratie hat er geglaubt, an die macht der isonomie, und an die ma-
xime en to pollo eni ta panta (Herod. 3, 80). die logische ge-
schlossenheit des demokratischen majoritätssystemes hat seinen dem ab-
stracten zugewandten sinn eingenommen, und radical, wie die mathe-
matiker sind, hat er keine consequenz des prinzipes gescheut. freilich
nur für seine Athener galt das ison. dass sie zum herrschen über
Hellas berufen seien, weil sie tüchtiger wären, durch ihre freiheit und
gleichheit tüchtiger, hat ihn mit fug Thukydides sagen lassen. dass sie
die machtmittel hätten, die herrschaft zu erringen, wenn sie sie nur an
der rechten stelle brauchen wollten, hatte er 462 schon begriffen; daran
ist er nicht irre geworden, wie an nichts. wer sich seine überzeugung
zu einem exempel gemacht hat, das nun einmal richtig ist, kann sie
nimmermehr aufgeben. und so hat er 432 dasselbe ziel zu erreichen
versucht, das er sich dreissig jahre vorher gesteckt hatte. man wird ihn
von der verantwortung nicht freisprechen dürfen, den krieg gewollt zu
haben, denn er hätte ihn hinausschieben können, wie es sein alters-
genosse, der brave könig Archidamos wollte. vielleicht ist es vor dem
richterstuhle der höchsten moral ubris, überhebung und sünde, einen
solchen schritt zu tun: die ate, die jede überhebung demütigt, ist
ja auch nicht ausgeblieben. indessen Perikles, der rechner, durfte sich
sagen, dass aller berechnung nach der sieg nicht zweifelhaft sein könnte,
dass niemand so wie er befähigt wäre, sein volk in dem kampfe zu
führen, und dass es hohe zeit wäre, falls er diese rolle noch spielen
sollte. aber es zeigte sich, dass rechnen nicht genügt für die politik,
weil menschenseelen ein anderes sind als trieren hopliten und talente,
ganz ungerechnet die tücke des zufalles, das daimonion phthoneron kai
tarakhodes, das die pest sandte. und weiter zeigte sich, dass die ab-

Perikles.
losen forschernatur des Anaxagoras, der einsam lebte, wie er selbst. bei
dem lernte er die weltauffassung, die den zweck des lebens in die anschau-
ung des unendlichen κόσμος, der ordnung und der schönheit des alls, ver-
legt, und dem entsprechend dem individuum gebeut, zugleich sich in die
eigene sterblichkeit zu schicken und die ewigkeit in der seele zu tragen
(ἀϑάνατα φϱονεῖν). weil sie aus der tiefe einer denkgewohnten seele
quoll, riſs seine ernste beredsamkeit die menge fort, auch wo sie sie nicht
verstand, und die fassung, die er bei seinem trüben einsamen ende
bewahrte, hat dem Protagoras worte der bewunderung abgenötigt. aber
er war doch weit entfernt von diesen männern des ϑεωϱητικὸς βίος,
und der κόσμος, dem er diente, und den er zu verwirklichen strebte,
war die freiheit und die herrschaft seines volkes. an die logik der de-
mokratie hat er geglaubt, an die macht der ἰσονομίη, und an die ma-
xime ἐν τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα (Herod. 3, 80). die logische ge-
schlossenheit des demokratischen majoritätssystemes hat seinen dem ab-
stracten zugewandten sinn eingenommen, und radical, wie die mathe-
matiker sind, hat er keine consequenz des prinzipes gescheut. freilich
nur für seine Athener galt das ἴσον. daſs sie zum herrschen über
Hellas berufen seien, weil sie tüchtiger wären, durch ihre freiheit und
gleichheit tüchtiger, hat ihn mit fug Thukydides sagen lassen. daſs sie
die machtmittel hätten, die herrschaft zu erringen, wenn sie sie nur an
der rechten stelle brauchen wollten, hatte er 462 schon begriffen; daran
ist er nicht irre geworden, wie an nichts. wer sich seine überzeugung
zu einem exempel gemacht hat, das nun einmal richtig ist, kann sie
nimmermehr aufgeben. und so hat er 432 dasselbe ziel zu erreichen
versucht, das er sich dreiſsig jahre vorher gesteckt hatte. man wird ihn
von der verantwortung nicht freisprechen dürfen, den krieg gewollt zu
haben, denn er hätte ihn hinausschieben können, wie es sein alters-
genosse, der brave könig Archidamos wollte. vielleicht ist es vor dem
richterstuhle der höchsten moral ὕβϱις, überhebung und sünde, einen
solchen schritt zu tun: die ἄτη, die jede überhebung demütigt, ist
ja auch nicht ausgeblieben. indessen Perikles, der rechner, durfte sich
sagen, daſs aller berechnung nach der sieg nicht zweifelhaft sein könnte,
daſs niemand so wie er befähigt wäre, sein volk in dem kampfe zu
führen, und daſs es hohe zeit wäre, falls er diese rolle noch spielen
sollte. aber es zeigte sich, daſs rechnen nicht genügt für die politik,
weil menschenseelen ein anderes sind als trieren hopliten und talente,
ganz ungerechnet die tücke des zufalles, das δαιμόνιον φϑονεϱὸν καὶ
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[101/0111] Perikles. losen forschernatur des Anaxagoras, der einsam lebte, wie er selbst. bei dem lernte er die weltauffassung, die den zweck des lebens in die anschau- ung des unendlichen κόσμος, der ordnung und der schönheit des alls, ver- legt, und dem entsprechend dem individuum gebeut, zugleich sich in die eigene sterblichkeit zu schicken und die ewigkeit in der seele zu tragen (ἀϑάνατα φϱονεῖν). weil sie aus der tiefe einer denkgewohnten seele quoll, riſs seine ernste beredsamkeit die menge fort, auch wo sie sie nicht verstand, und die fassung, die er bei seinem trüben einsamen ende bewahrte, hat dem Protagoras worte der bewunderung abgenötigt. aber er war doch weit entfernt von diesen männern des ϑεωϱητικὸς βίος, und der κόσμος, dem er diente, und den er zu verwirklichen strebte, war die freiheit und die herrschaft seines volkes. an die logik der de- mokratie hat er geglaubt, an die macht der ἰσονομίη, und an die ma- xime ἐν τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα (Herod. 3, 80). die logische ge- schlossenheit des demokratischen majoritätssystemes hat seinen dem ab- stracten zugewandten sinn eingenommen, und radical, wie die mathe- matiker sind, hat er keine consequenz des prinzipes gescheut. freilich nur für seine Athener galt das ἴσον. daſs sie zum herrschen über Hellas berufen seien, weil sie tüchtiger wären, durch ihre freiheit und gleichheit tüchtiger, hat ihn mit fug Thukydides sagen lassen. daſs sie die machtmittel hätten, die herrschaft zu erringen, wenn sie sie nur an der rechten stelle brauchen wollten, hatte er 462 schon begriffen; daran ist er nicht irre geworden, wie an nichts. wer sich seine überzeugung zu einem exempel gemacht hat, das nun einmal richtig ist, kann sie nimmermehr aufgeben. und so hat er 432 dasselbe ziel zu erreichen versucht, das er sich dreiſsig jahre vorher gesteckt hatte. man wird ihn von der verantwortung nicht freisprechen dürfen, den krieg gewollt zu haben, denn er hätte ihn hinausschieben können, wie es sein alters- genosse, der brave könig Archidamos wollte. vielleicht ist es vor dem richterstuhle der höchsten moral ὕβϱις, überhebung und sünde, einen solchen schritt zu tun: die ἄτη, die jede überhebung demütigt, ist ja auch nicht ausgeblieben. indessen Perikles, der rechner, durfte sich sagen, daſs aller berechnung nach der sieg nicht zweifelhaft sein könnte, daſs niemand so wie er befähigt wäre, sein volk in dem kampfe zu führen, und daſs es hohe zeit wäre, falls er diese rolle noch spielen sollte. aber es zeigte sich, daſs rechnen nicht genügt für die politik, weil menschenseelen ein anderes sind als trieren hopliten und talente, ganz ungerechnet die tücke des zufalles, das δαιμόνιον φϑονεϱὸν καὶ ταϱαχῶδες, das die pest sandte. und weiter zeigte sich, daſs die ab-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/111>, abgerufen am 19.04.2024.