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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Solon.
die schönste novelle gedichtet, in der er dem Hellenen seine sophrosune
repräsentirt. auf dem güldenen throne sitzt der barbar in seiner ma-
teriellen herrlichkeit mit all dem dünkel abergläubischer gottwolgefällig-
keit und ruft "sehet mich an, ich bin glücklich und gottgesegnet"
(olbios und eudaimon). der weise im schlichten bürgerkleide belehrt
ihn, dass das höchste menschenglück das des schlichten bürgers ist,
wie es die natur dem menschen gewähret, mit weib und kind, acker
und vieh, gesundheit und gedeihen, und zur krönung dem seligsten tode,
dem tode des kriegers fürs vaterland. vergebens belehrt er den bar-
baren, vergebens mahnt er ihn, dass den tag vor dem abend niemand loben
dürfe. Kroisos verlacht die mahnung, das schicksal ereilt ihn, und das
gedächtnis an des weisen wort ist das einzige was ihn errettet.

So steht Solon da, der typus des Hellenentums, des Athener-
tumes, sich bewusst der menschenschwäche und des menschenadels, de-
mütig vor der natur, demütig vor gott, aber nur vor dem ewigen
demütig. so lernen unsere kinder den weisen Solon kennen: nicht den
vater der demokratie, aber den hellenischen propheten, den dichter und
den weisen. die unsterbliche seele Solons und seines volkes ruft uns
alle noch heute auf zu der seisachthie des götzendienstes dieser welt.

Doch ich vergesse, unsere kinder sollen den weisen Solon nicht
mehr kennen lernen. die moderne selbstgerechtigkeit und hoffart sitzt
als ein protziger barbar auf ihrem throne, opfert götzendienerisch ihrer
eigenen herrlichkeit und ihren lüsten und weist den hellenischen mahner
an selbstbescheidung und demut unwillig von sich. soll sie auch erst
auf den scheiterhaufen steigen, um sich auf die hellenische weisheit zu
besinnen? vielleicht. aber schwerlich wird ihr zerstörer ein Kyros sein,
der sie um des verzweiflungsrufes "Solon, Solon" begnadige.




5*

Solon.
die schönste novelle gedichtet, in der er dem Hellenen seine σωφϱοσύνη
repräsentirt. auf dem güldenen throne sitzt der barbar in seiner ma-
teriellen herrlichkeit mit all dem dünkel abergläubischer gottwolgefällig-
keit und ruft “sehet mich an, ich bin glücklich und gottgesegnet”
(ὄλβιος und εὐδαίμων). der weise im schlichten bürgerkleide belehrt
ihn, daſs das höchste menschenglück das des schlichten bürgers ist,
wie es die natur dem menschen gewähret, mit weib und kind, acker
und vieh, gesundheit und gedeihen, und zur krönung dem seligsten tode,
dem tode des kriegers fürs vaterland. vergebens belehrt er den bar-
baren, vergebens mahnt er ihn, daſs den tag vor dem abend niemand loben
dürfe. Kroisos verlacht die mahnung, das schicksal ereilt ihn, und das
gedächtnis an des weisen wort ist das einzige was ihn errettet.

So steht Solon da, der typus des Hellenentums, des Athener-
tumes, sich bewuſst der menschenschwäche und des menschenadels, de-
mütig vor der natur, demütig vor gott, aber nur vor dem ewigen
demütig. so lernen unsere kinder den weisen Solon kennen: nicht den
vater der demokratie, aber den hellenischen propheten, den dichter und
den weisen. die unsterbliche seele Solons und seines volkes ruft uns
alle noch heute auf zu der seisachthie des götzendienstes dieser welt.

Doch ich vergesse, unsere kinder sollen den weisen Solon nicht
mehr kennen lernen. die moderne selbstgerechtigkeit und hoffart sitzt
als ein protziger barbar auf ihrem throne, opfert götzendienerisch ihrer
eigenen herrlichkeit und ihren lüsten und weist den hellenischen mahner
an selbstbescheidung und demut unwillig von sich. soll sie auch erst
auf den scheiterhaufen steigen, um sich auf die hellenische weisheit zu
besinnen? vielleicht. aber schwerlich wird ihr zerstörer ein Kyros sein,
der sie um des verzweiflungsrufes “Solon, Solon” begnadige.




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[67/0077] Solon. die schönste novelle gedichtet, in der er dem Hellenen seine σωφϱοσύνη repräsentirt. auf dem güldenen throne sitzt der barbar in seiner ma- teriellen herrlichkeit mit all dem dünkel abergläubischer gottwolgefällig- keit und ruft “sehet mich an, ich bin glücklich und gottgesegnet” (ὄλβιος und εὐδαίμων). der weise im schlichten bürgerkleide belehrt ihn, daſs das höchste menschenglück das des schlichten bürgers ist, wie es die natur dem menschen gewähret, mit weib und kind, acker und vieh, gesundheit und gedeihen, und zur krönung dem seligsten tode, dem tode des kriegers fürs vaterland. vergebens belehrt er den bar- baren, vergebens mahnt er ihn, daſs den tag vor dem abend niemand loben dürfe. Kroisos verlacht die mahnung, das schicksal ereilt ihn, und das gedächtnis an des weisen wort ist das einzige was ihn errettet. So steht Solon da, der typus des Hellenentums, des Athener- tumes, sich bewuſst der menschenschwäche und des menschenadels, de- mütig vor der natur, demütig vor gott, aber nur vor dem ewigen demütig. so lernen unsere kinder den weisen Solon kennen: nicht den vater der demokratie, aber den hellenischen propheten, den dichter und den weisen. die unsterbliche seele Solons und seines volkes ruft uns alle noch heute auf zu der seisachthie des götzendienstes dieser welt. Doch ich vergesse, unsere kinder sollen den weisen Solon nicht mehr kennen lernen. die moderne selbstgerechtigkeit und hoffart sitzt als ein protziger barbar auf ihrem throne, opfert götzendienerisch ihrer eigenen herrlichkeit und ihren lüsten und weist den hellenischen mahner an selbstbescheidung und demut unwillig von sich. soll sie auch erst auf den scheiterhaufen steigen, um sich auf die hellenische weisheit zu besinnen? vielleicht. aber schwerlich wird ihr zerstörer ein Kyros sein, der sie um des verzweiflungsrufes “Solon, Solon” begnadige. 5*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/77>, abgerufen am 24.04.2024.