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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Athen in der tyrannenzeit. Äussere politik der tyrannen.
den wahlen gehn, wol auch allmonatlich zur volksversammlung; die
formen der selbstverwaltung in der naukrarie, auch der rat in der stadt,
waren gewahrt, und so stimmte man gern für die candidaten der regie-
rung. es verdient alle anerkennung, dass die Peisistratiden für den
ackerbau sorgten; dennoch ist die schilderung des Aristoteles schief, die
diese seite ausschliesslich hervorhebt. um keine agrarier zu sein, dazu
besassen sie schon genug wirtschaftliche einsicht: der mächtige auf-
schwung von industrie und handel, der unter ihnen statt fand, ist für
uns selbst noch in seinen erzeugnissen kenntlich, und das friedliche
menschenalter 540--10 hat erst die ionische höhere cultur, zum teil
auch die von Argos und Aigina nach Athen geführt und das attische
wesen erzeugt, das allen andern eben deshalb überlegen ward, weil es
alle anregungen aufgenommen und innerlich sich zu eigen gemacht hatte.
handel und industrie setzen eine starke nicht angesessene, zum teil nicht
einmal eingeborene bevölkerung voraus, die wir denn auch antreffen,
und sie haben die städtische centralisation im gefolge. das prestige der
tyrannis erforderte neue tempel und neue feste. die Peisistratiden haben
ein neues Athen geschaffen, und nur dass die Perser es verbrannten
und dann neue gebäude sich erhoben, hat bewirkt, dass Athen nicht
dauernd die züge der tyrannenzeit getragen hat.

Dass die tyrannen Athen diese friedliche zeit und dieses gedeihenÄussere po-
litik der
tyrannen.

verschaffen konnten, lag wesentlich darin begründet, dass sie selbst nach
keiner seite übergreifen konnten noch wollten und durch persönliche
und familienverbindungen ein gutes einvernehmen mit den meisten
staaten erhielten. mit der hilfe von Theben Eretria und Argos war
Peisistratos heimgekehrt; an der thrakischen küste besass er eigenen
besitz; ein vertriebener adlicher von Naxos, dem er zum danke die
herrschaft in seiner heimat verschaffte, hatte sich an seiner seite be-
funden; auch die beziehungen zu dem thessalischen adel werden so alt
sein. diese verbindungen sind zum teil noch über den sturz des Hippias
hinaus erhalten geblieben. es liegt freilich in dieser gruppirung der
mächte, dass es eine gruppe ihnen gegenüber gab. wer nahe zu Argos
stand, war den Spartiaten und ihrem bunde verdächtig, wer Eretria
unterstützte, dem war Chalkis feind, und Korinth, mit Chalkis und Sparta
zumeist verbunden, hat später seine feindliche gesinnung wider die
Peisistratiden bewiesen. es ist augenfällig, dass die herren Athens sich
von diesen hauptmächten des festlandes nicht nur fern halten, sondern
sich zu emanzipiren trachten. sie lassen keine pferde in Olympia und
Delphi rennen und stiften dort keine weihgeschenke, sie gründen viel-

Athen in der tyrannenzeit. Äuſsere politik der tyrannen.
den wahlen gehn, wol auch allmonatlich zur volksversammlung; die
formen der selbstverwaltung in der naukrarie, auch der rat in der stadt,
waren gewahrt, und so stimmte man gern für die candidaten der regie-
rung. es verdient alle anerkennung, daſs die Peisistratiden für den
ackerbau sorgten; dennoch ist die schilderung des Aristoteles schief, die
diese seite ausschlieſslich hervorhebt. um keine agrarier zu sein, dazu
besaſsen sie schon genug wirtschaftliche einsicht: der mächtige auf-
schwung von industrie und handel, der unter ihnen statt fand, ist für
uns selbst noch in seinen erzeugnissen kenntlich, und das friedliche
menschenalter 540—10 hat erst die ionische höhere cultur, zum teil
auch die von Argos und Aigina nach Athen geführt und das attische
wesen erzeugt, das allen andern eben deshalb überlegen ward, weil es
alle anregungen aufgenommen und innerlich sich zu eigen gemacht hatte.
handel und industrie setzen eine starke nicht angesessene, zum teil nicht
einmal eingeborene bevölkerung voraus, die wir denn auch antreffen,
und sie haben die städtische centralisation im gefolge. das prestige der
tyrannis erforderte neue tempel und neue feste. die Peisistratiden haben
ein neues Athen geschaffen, und nur daſs die Perser es verbrannten
und dann neue gebäude sich erhoben, hat bewirkt, daſs Athen nicht
dauernd die züge der tyrannenzeit getragen hat.

Daſs die tyrannen Athen diese friedliche zeit und dieses gedeihenÄuſsere po-
litik der
tyrannen.

verschaffen konnten, lag wesentlich darin begründet, daſs sie selbst nach
keiner seite übergreifen konnten noch wollten und durch persönliche
und familienverbindungen ein gutes einvernehmen mit den meisten
staaten erhielten. mit der hilfe von Theben Eretria und Argos war
Peisistratos heimgekehrt; an der thrakischen küste besaſs er eigenen
besitz; ein vertriebener adlicher von Naxos, dem er zum danke die
herrschaft in seiner heimat verschaffte, hatte sich an seiner seite be-
funden; auch die beziehungen zu dem thessalischen adel werden so alt
sein. diese verbindungen sind zum teil noch über den sturz des Hippias
hinaus erhalten geblieben. es liegt freilich in dieser gruppirung der
mächte, daſs es eine gruppe ihnen gegenüber gab. wer nahe zu Argos
stand, war den Spartiaten und ihrem bunde verdächtig, wer Eretria
unterstützte, dem war Chalkis feind, und Korinth, mit Chalkis und Sparta
zumeist verbunden, hat später seine feindliche gesinnung wider die
Peisistratiden bewiesen. es ist augenfällig, daſs die herren Athens sich
von diesen hauptmächten des festlandes nicht nur fern halten, sondern
sich zu emanzipiren trachten. sie lassen keine pferde in Olympia und
Delphi rennen und stiften dort keine weihgeschenke, sie gründen viel-

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[71/0081] Athen in der tyrannenzeit. Äuſsere politik der tyrannen. den wahlen gehn, wol auch allmonatlich zur volksversammlung; die formen der selbstverwaltung in der naukrarie, auch der rat in der stadt, waren gewahrt, und so stimmte man gern für die candidaten der regie- rung. es verdient alle anerkennung, daſs die Peisistratiden für den ackerbau sorgten; dennoch ist die schilderung des Aristoteles schief, die diese seite ausschlieſslich hervorhebt. um keine agrarier zu sein, dazu besaſsen sie schon genug wirtschaftliche einsicht: der mächtige auf- schwung von industrie und handel, der unter ihnen statt fand, ist für uns selbst noch in seinen erzeugnissen kenntlich, und das friedliche menschenalter 540—10 hat erst die ionische höhere cultur, zum teil auch die von Argos und Aigina nach Athen geführt und das attische wesen erzeugt, das allen andern eben deshalb überlegen ward, weil es alle anregungen aufgenommen und innerlich sich zu eigen gemacht hatte. handel und industrie setzen eine starke nicht angesessene, zum teil nicht einmal eingeborene bevölkerung voraus, die wir denn auch antreffen, und sie haben die städtische centralisation im gefolge. das prestige der tyrannis erforderte neue tempel und neue feste. die Peisistratiden haben ein neues Athen geschaffen, und nur daſs die Perser es verbrannten und dann neue gebäude sich erhoben, hat bewirkt, daſs Athen nicht dauernd die züge der tyrannenzeit getragen hat. Daſs die tyrannen Athen diese friedliche zeit und dieses gedeihen verschaffen konnten, lag wesentlich darin begründet, daſs sie selbst nach keiner seite übergreifen konnten noch wollten und durch persönliche und familienverbindungen ein gutes einvernehmen mit den meisten staaten erhielten. mit der hilfe von Theben Eretria und Argos war Peisistratos heimgekehrt; an der thrakischen küste besaſs er eigenen besitz; ein vertriebener adlicher von Naxos, dem er zum danke die herrschaft in seiner heimat verschaffte, hatte sich an seiner seite be- funden; auch die beziehungen zu dem thessalischen adel werden so alt sein. diese verbindungen sind zum teil noch über den sturz des Hippias hinaus erhalten geblieben. es liegt freilich in dieser gruppirung der mächte, daſs es eine gruppe ihnen gegenüber gab. wer nahe zu Argos stand, war den Spartiaten und ihrem bunde verdächtig, wer Eretria unterstützte, dem war Chalkis feind, und Korinth, mit Chalkis und Sparta zumeist verbunden, hat später seine feindliche gesinnung wider die Peisistratiden bewiesen. es ist augenfällig, daſs die herren Athens sich von diesen hauptmächten des festlandes nicht nur fern halten, sondern sich zu emanzipiren trachten. sie lassen keine pferde in Olympia und Delphi rennen und stiften dort keine weihgeschenke, sie gründen viel- Äuſsere po- litik der tyrannen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/81>, abgerufen am 28.03.2024.