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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Sagen geschichtlichen inhalts. Herakles der gott.
zählung von einem heldenleben voraus, die bereits eine gewisse feste form
hat: denn sie alle sind innerhalb dieses lebens zeitlos und suchen erst später
einen platz irgendwo innerhalb einer älteren reihe von erlebnissen des
helden. diese sagen haben endlich alle das gemeinsam, dass sie nur einen
heros kennen, zwar einen übergewaltigen und des höchsten gottes sohn,
aber doch nur einen menschen, der menschlich leidet und geniesst. das
ist aber nur eine seite seines wesens, denn Herakles ist ja auch ein gott.

Als gott sehen wir ihn nun in der unserer geschichtlichen kenntnisHerakles
der gott.

zunächst zugänglichen zeit nicht nur nicht auf die dorischen volksstämme
beschränkt, sondern wir sehen, dass gerade nichtdorer ihn vorwiegend
als solchen empfinden, und die ionischen orte Marathon und Leontinoi 39)
erheben sogar besonderen anspruch darauf, ihn zuerst göttlich verehrt
zu haben. es hat das seinen guten grund. der dorische heros gieng die
nichts an, die nicht seines blutes waren. die woltaten, welche er seinen
Dorern oder Boeotern erwiesen hatte, waren ihnen gleichgiltig, wenn sie
nicht gar selbst darunter gelitten hatten. aber der gott, der den Boeotern
eine so kräftige hilfe gewährte, musste dem Attiker jenseits des Kithairon
und dem Chalkidier jenseits des Euripos als ein mächtiger daemon er-
scheinen, dessen gunst und beistand er selbst sich gern verschaffte: an
diesen gott lernte er glauben und zu ihm beten. dies ist doch der weg, auf
dem überhaupt der cult einer gottheit sich unwillkürlich verbreitet, und der
Heraklescult ist von Boeotien und Megara aus z. b. ziemlich in jedes attische
dorf gekommen. das setzt voraus, dass im wesen des gottes Herakles
etwas allgemein göttliches war, das sich jedem menschen mitteilen konnte,
auch wenn er kein blutsverwandter oder knecht des dorischen heros war.
wenn es gelingt dieses zu erfassen, so haben wir das complement zu
dem streitenden Dorerhelden, den uns die vorhin besprochenen sagen
zeigen. und wir erfassen den gott, wenn wir sein wirken, oder vielmehr
die stimmungen derer erkennen, welche sich ihm gläubig nahten. Erakleis
ruft der Athener, wenn ihm bei irgend etwas nicht geheuer ist; der ausruf
ist sehr abgeschwächt, es ist ein milder 'fluch', wie unsere blasphemische
weise zu reden ist. aber zu grunde liegt doch eine angstempfindung. das

39) Diodor IV 24. er nennt seine vaterstadt Agurion besonders und fügt ohne
zweifel eigenes ein. aber sie liegt im Leontinon pedion, wie er selbst hervorhebt,
und hat ihren cult doch nur von den griechischen herren desselben. auch ist eine
wendung wie nomisas ede ti lambanein tes athanasias tou athlou dekatou telou-
menou nur unter voraussetzungen denkbar, welche nicht Diodors erzählung gibt,
sondern z. b. die apollodorische bibliothek. also er contaminirt, wie so oft. der
text, dem er seine localpatriotischen zusätze beifügt, ist Timaios, der den Herakles-
cult von Leontinoi angegeben haben wird.

Sagen geschichtlichen inhalts. Herakles der gott.
zählung von einem heldenleben voraus, die bereits eine gewisse feste form
hat: denn sie alle sind innerhalb dieses lebens zeitlos und suchen erst später
einen platz irgendwo innerhalb einer älteren reihe von erlebnissen des
helden. diese sagen haben endlich alle das gemeinsam, daſs sie nur einen
heros kennen, zwar einen übergewaltigen und des höchsten gottes sohn,
aber doch nur einen menschen, der menschlich leidet und genieſst. das
ist aber nur eine seite seines wesens, denn Herakles ist ja auch ein gott.

Als gott sehen wir ihn nun in der unserer geschichtlichen kenntnisHerakles
der gott.

zunächst zugänglichen zeit nicht nur nicht auf die dorischen volksstämme
beschränkt, sondern wir sehen, daſs gerade nichtdorer ihn vorwiegend
als solchen empfinden, und die ionischen orte Marathon und Leontinoi 39)
erheben sogar besonderen anspruch darauf, ihn zuerst göttlich verehrt
zu haben. es hat das seinen guten grund. der dorische heros gieng die
nichts an, die nicht seines blutes waren. die woltaten, welche er seinen
Dorern oder Boeotern erwiesen hatte, waren ihnen gleichgiltig, wenn sie
nicht gar selbst darunter gelitten hatten. aber der gott, der den Boeotern
eine so kräftige hilfe gewährte, muſste dem Attiker jenseits des Kithairon
und dem Chalkidier jenseits des Euripos als ein mächtiger daemon er-
scheinen, dessen gunst und beistand er selbst sich gern verschaffte: an
diesen gott lernte er glauben und zu ihm beten. dies ist doch der weg, auf
dem überhaupt der cult einer gottheit sich unwillkürlich verbreitet, und der
Heraklescult ist von Boeotien und Megara aus z. b. ziemlich in jedes attische
dorf gekommen. das setzt voraus, daſs im wesen des gottes Herakles
etwas allgemein göttliches war, das sich jedem menschen mitteilen konnte,
auch wenn er kein blutsverwandter oder knecht des dorischen heros war.
wenn es gelingt dieses zu erfassen, so haben wir das complement zu
dem streitenden Dorerhelden, den uns die vorhin besprochenen sagen
zeigen. und wir erfassen den gott, wenn wir sein wirken, oder vielmehr
die stimmungen derer erkennen, welche sich ihm gläubig nahten. Ἡράκλεις
ruft der Athener, wenn ihm bei irgend etwas nicht geheuer ist; der ausruf
ist sehr abgeschwächt, es ist ein milder ‘fluch’, wie unsere blasphemische
weise zu reden ist. aber zu grunde liegt doch eine angstempfindung. das

39) Diodor IV 24. er nennt seine vaterstadt Ἀγύριον besonders und fügt ohne
zweifel eigenes ein. aber sie liegt im Λεοντῖνον πεδίον, wie er selbst hervorhebt,
und hat ihren cult doch nur von den griechischen herren desselben. auch ist eine
wendung wie νομίσας ἤδη τι λαμβάνειν τῆς ἀϑανασίας τοῦ ἄϑλου δεκάτου τελου-
μένου nur unter voraussetzungen denkbar, welche nicht Diodors erzählung gibt,
sondern z. b. die apollodorische bibliothek. also er contaminirt, wie so oft. der
text, dem er seine localpatriotischen zusätze beifügt, ist Timaios, der den Herakles-
cult von Leontinoi angegeben haben wird.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/303>, abgerufen am 20.04.2024.