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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Das leben des Euripides.
auch nicht 83), ausser dass die Aristophaneserklärer von solchen fabeln,
wenn sie ein citat nicht verificiren können.

Ein viertel der werke des Euripides ist erhalten; die summe der
einzeln sonst überlieferten verse füllt nahezu weitere anderthalb tragödien
und von einem zweiten viertel sind wir so weit unterrichtet, dass wir
selbst die behandlung einigermassen übersehen können; den stoff im
allgemeinen kennen wir nur von ganz wenigen nicht. notorisch steht
die spätere litteratur sehr stark unter euripideischem einflusse: dass die
forschung also unsere kenntnis des verlornen noch sehr stark bereichern
kann, ist klar. neue citate von einzelnen versen tröpfeln sacht aus der
grammatischen litteratur nach, die erst allmählich erschlossen wird; die
aegyptischen funde haben einen fetzen auch aus einem verlornen drama,
freilich einem recht schwachen, der zweiten Melanippe, ergeben. also
auch von dieser seite ist bereicherung zu hoffen. aber nicht nur expansiv,
vor allem intensiv muss unsere kenntnis wachsen. denn Euripides ist
zwar keiner von den dichtern, die die menschheit nicht entbehren kann
ohne in die bestialität hinabzusinken: aber er ist doch einer, der noch
so frisch ist, dass man liebe und hass zu ihm empfindet, und die poesie
jeder zeit, wenn sie eine ist, sich mindestens mit ihm auseinandersetzen
muss: er fordert und verdient ein individuelles verständnis. die über-
lieferung gibt die möglichkeit dazu zu gelangen: möge man über ein
menschenalter die dürftigkeit dieser skizze belächeln können.


corrigirt. aber welcher stil ist hier überhaupt? in 44 versen 19 formen des pro-
nomens erster person, und der anfang o pater ekhren men ous ego lego logous,
toutous legein se, kai gar armottei phronein se mallon i ' me kai legein opou ti
dei, viermal legein: das ist so der stil bei den correspondenten des magister Ortvinus
Gratius. es ist ein zeichen der zeit, dass dieses zeug dem Euripides zugeschrieben
wird: offenbar passt es nur für Smodregates. der es verfertigt hat, hat übrigens
keine tragödie geschrieben, denn es fehlt jede individuelle beziehung. doch genug
davon; hoffentlich für immer.
83) Et. Florentinum citirt fgm. 824 aus dem zweiten Phrixos und aus demselben
eine verwirrte notiz der Aristophanesscholien fgm. 816. mitgezählt ist das drama
sicher nicht; aber es ist nicht undenkbar, dass neben der echten fassung eine von
schauspielern zugestutzte bestand. tatsächlich haben zwei solche fassungen der
Herakleiden wirklich bestanden, aber davon erzählen uns die grammatiker nichts.
dass der erhaltene Hippolytos eine umarbeitung des ersten gewesen wäre, wie wir
sie von Götz und Carlos haben, ist eine eitele erfindung der modernen um ihre fal-
schen athetesen zu stützen. es ist überliefert und ganz sicher zu erkennen, dass
es vielmehr eine völlig neue bearbeitung desselben stoffes war. wie es mit den
gleichnamigen dramen des Sophokles stand, welche durch ziffern unterschieden werden
ist unbekannt; wahrscheinlich aber gerade so.

Das leben des Euripides.
auch nicht 83), auſser daſs die Aristophaneserklärer von solchen fabeln,
wenn sie ein citat nicht verificiren können.

Ein viertel der werke des Euripides ist erhalten; die summe der
einzeln sonst überlieferten verse füllt nahezu weitere anderthalb tragödien
und von einem zweiten viertel sind wir so weit unterrichtet, daſs wir
selbst die behandlung einigermaſsen übersehen können; den stoff im
allgemeinen kennen wir nur von ganz wenigen nicht. notorisch steht
die spätere litteratur sehr stark unter euripideischem einflusse: daſs die
forschung also unsere kenntnis des verlornen noch sehr stark bereichern
kann, ist klar. neue citate von einzelnen versen tröpfeln sacht aus der
grammatischen litteratur nach, die erst allmählich erschlossen wird; die
aegyptischen funde haben einen fetzen auch aus einem verlornen drama,
freilich einem recht schwachen, der zweiten Melanippe, ergeben. also
auch von dieser seite ist bereicherung zu hoffen. aber nicht nur expansiv,
vor allem intensiv muſs unsere kenntnis wachsen. denn Euripides ist
zwar keiner von den dichtern, die die menschheit nicht entbehren kann
ohne in die bestialität hinabzusinken: aber er ist doch einer, der noch
so frisch ist, daſs man liebe und haſs zu ihm empfindet, und die poesie
jeder zeit, wenn sie eine ist, sich mindestens mit ihm auseinandersetzen
muſs: er fordert und verdient ein individuelles verständnis. die über-
lieferung gibt die möglichkeit dazu zu gelangen: möge man über ein
menschenalter die dürftigkeit dieser skizze belächeln können.


corrigirt. aber welcher stil ist hier überhaupt? in 44 versen 19 formen des pro-
nomens erster person, und der anfang ὦ πάτερ ἐχρῆν μἐν οὓς ἐγὠ λέγω λόγους,
τούτους λέγειν σέ, καὶ γἀρ ἁρμόττει φρονεῑν σὲ μᾶλλον ἴ ᾽ ̕μὲ καὶ λέγειν ὅπου τι
δεῖ, viermal λέγειν: das ist so der stil bei den correspondenten des magister Ortvinus
Gratius. es ist ein zeichen der zeit, daſs dieses zeug dem Euripides zugeschrieben
wird: offenbar paſst es nur für Σμοδρεγατης. der es verfertigt hat, hat übrigens
keine tragödie geschrieben, denn es fehlt jede individuelle beziehung. doch genug
davon; hoffentlich für immer.
83) Et. Florentinum citirt fgm. 824 aus dem zweiten Phrixos und aus demselben
eine verwirrte notiz der Aristophanesscholien fgm. 816. mitgezählt ist das drama
sicher nicht; aber es ist nicht undenkbar, daſs neben der echten fassung eine von
schauspielern zugestutzte bestand. tatsächlich haben zwei solche fassungen der
Herakleiden wirklich bestanden, aber davon erzählen uns die grammatiker nichts.
daſs der erhaltene Hippolytos eine umarbeitung des ersten gewesen wäre, wie wir
sie von Götz und Carlos haben, ist eine eitele erfindung der modernen um ihre fal-
schen athetesen zu stützen. es ist überliefert und ganz sicher zu erkennen, daſs
es vielmehr eine völlig neue bearbeitung desselben stoffes war. wie es mit den
gleichnamigen dramen des Sophokles stand, welche durch ziffern unterschieden werden
ist unbekannt; wahrscheinlich aber gerade so.
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[42/0062] Das leben des Euripides. auch nicht 83), auſser daſs die Aristophaneserklärer von solchen fabeln, wenn sie ein citat nicht verificiren können. Ein viertel der werke des Euripides ist erhalten; die summe der einzeln sonst überlieferten verse füllt nahezu weitere anderthalb tragödien und von einem zweiten viertel sind wir so weit unterrichtet, daſs wir selbst die behandlung einigermaſsen übersehen können; den stoff im allgemeinen kennen wir nur von ganz wenigen nicht. notorisch steht die spätere litteratur sehr stark unter euripideischem einflusse: daſs die forschung also unsere kenntnis des verlornen noch sehr stark bereichern kann, ist klar. neue citate von einzelnen versen tröpfeln sacht aus der grammatischen litteratur nach, die erst allmählich erschlossen wird; die aegyptischen funde haben einen fetzen auch aus einem verlornen drama, freilich einem recht schwachen, der zweiten Melanippe, ergeben. also auch von dieser seite ist bereicherung zu hoffen. aber nicht nur expansiv, vor allem intensiv muſs unsere kenntnis wachsen. denn Euripides ist zwar keiner von den dichtern, die die menschheit nicht entbehren kann ohne in die bestialität hinabzusinken: aber er ist doch einer, der noch so frisch ist, daſs man liebe und haſs zu ihm empfindet, und die poesie jeder zeit, wenn sie eine ist, sich mindestens mit ihm auseinandersetzen muſs: er fordert und verdient ein individuelles verständnis. die über- lieferung gibt die möglichkeit dazu zu gelangen: möge man über ein menschenalter die dürftigkeit dieser skizze belächeln können. 82) 83) Et. Florentinum citirt fgm. 824 aus dem zweiten Phrixos und aus demselben eine verwirrte notiz der Aristophanesscholien fgm. 816. mitgezählt ist das drama sicher nicht; aber es ist nicht undenkbar, daſs neben der echten fassung eine von schauspielern zugestutzte bestand. tatsächlich haben zwei solche fassungen der Herakleiden wirklich bestanden, aber davon erzählen uns die grammatiker nichts. daſs der erhaltene Hippolytos eine umarbeitung des ersten gewesen wäre, wie wir sie von Götz und Carlos haben, ist eine eitele erfindung der modernen um ihre fal- schen athetesen zu stützen. es ist überliefert und ganz sicher zu erkennen, daſs es vielmehr eine völlig neue bearbeitung desselben stoffes war. wie es mit den gleichnamigen dramen des Sophokles stand, welche durch ziffern unterschieden werden ist unbekannt; wahrscheinlich aber gerade so. 82) corrigirt. aber welcher stil ist hier überhaupt? in 44 versen 19 formen des pro- nomens erster person, und der anfang ὦ πάτερ ἐχρῆν μἐν οὓς ἐγὠ λέγω λόγους, τούτους λέγειν σέ, καὶ γἀρ ἁρμόττει φρονεῑν σὲ μᾶλλον ἴ ᾽ ̕μὲ καὶ λέγειν ὅπου τι δεῖ, viermal λέγειν: das ist so der stil bei den correspondenten des magister Ortvinus Gratius. es ist ein zeichen der zeit, daſs dieses zeug dem Euripides zugeschrieben wird: offenbar paſst es nur für Σμοδρεγατης. der es verfertigt hat, hat übrigens keine tragödie geschrieben, denn es fehlt jede individuelle beziehung. doch genug davon; hoffentlich für immer.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/62>, abgerufen am 19.04.2024.