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Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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und fing an mit halblauten Lippen darin zu lesen, indeß ihre Gedanken um den unverstandenen Sinn der Worte herumflatterten. Sie konnte sich nicht fassen, es rührte sich so fieberhaft in ihrem Blut. Endlich legte sie das Buch auf den Stuhl, kleidete sich aus und ging zu Bett. Durch die Fenster drang eine wachsende Helligkeit herein: der Mond war aufgegangen und beschien ihren Hof. Aber sie konnte sich dennoch nicht entschließen, die Lampe auf dem Nachttisch auszulöschen. Es verlangte sie so sehr nach hellem Licht. Die Musik summte ihr noch fort und fort im Ohr, und sie fühlte doch, daß es eine Täuschung ihrer Sinne war. Sie glaubte sogar Julius neben sich flüstern zu hören, -- aufgeregte, verführerische Worte. Als könne sie diesen Einbildungen so besser ein Ende machen, richtete sie sich auf. Nun klang die Thür, die durch den Durchgang nach dem Hofe führte, und deutliche Schritte -- keine Einbildung mehr -- kamen laut heran. Es war Johann Ohlerich's Schritt. Sie legte sich wieder in ihr Kissen zurück, in tiefer Beklemmung. Die Thür nach dem Hof ging auf -- sie hatte nicht daran gedacht, sie zuzuschließen, -- und nicht lange darauf trat die hohe Gestalt ihres Mannes herein, den Hut auf dem Kopf.

Das ist heut ein böses Wiedersehen, nach so langer Trennung! dachte sie.

Johann Ohlerich sagte nichts, ging in dem kleinen Zimmer mehrmals auf und ab, blieb vor dem Bett seines Jungen stehen, der ruhig fortschlief, und murmelte nur etwas vor sich hin. Sie blickte ihn von der Seite an, er hatte ein geröthetes Gesicht; sie errieth, daß ihn irgend ein heißes Getränk so geröthet hatte. Denn seine Haut färbte sich allemal, wenn er hastig trank. Die Brauen hatten sich über der Nase stark zusammengezogen, auch sah sie die blaue Ader auf seiner Stirn. Dieser Anblick machte ihr Furcht; doch sowie sie das fühlte, erwachte der alte Trotz, der die Furcht vor ihm nicht dulden wollte. Er hat es so gewollt! dachte

und fing an mit halblauten Lippen darin zu lesen, indeß ihre Gedanken um den unverstandenen Sinn der Worte herumflatterten. Sie konnte sich nicht fassen, es rührte sich so fieberhaft in ihrem Blut. Endlich legte sie das Buch auf den Stuhl, kleidete sich aus und ging zu Bett. Durch die Fenster drang eine wachsende Helligkeit herein: der Mond war aufgegangen und beschien ihren Hof. Aber sie konnte sich dennoch nicht entschließen, die Lampe auf dem Nachttisch auszulöschen. Es verlangte sie so sehr nach hellem Licht. Die Musik summte ihr noch fort und fort im Ohr, und sie fühlte doch, daß es eine Täuschung ihrer Sinne war. Sie glaubte sogar Julius neben sich flüstern zu hören, — aufgeregte, verführerische Worte. Als könne sie diesen Einbildungen so besser ein Ende machen, richtete sie sich auf. Nun klang die Thür, die durch den Durchgang nach dem Hofe führte, und deutliche Schritte — keine Einbildung mehr — kamen laut heran. Es war Johann Ohlerich's Schritt. Sie legte sich wieder in ihr Kissen zurück, in tiefer Beklemmung. Die Thür nach dem Hof ging auf — sie hatte nicht daran gedacht, sie zuzuschließen, — und nicht lange darauf trat die hohe Gestalt ihres Mannes herein, den Hut auf dem Kopf.

Das ist heut ein böses Wiedersehen, nach so langer Trennung! dachte sie.

Johann Ohlerich sagte nichts, ging in dem kleinen Zimmer mehrmals auf und ab, blieb vor dem Bett seines Jungen stehen, der ruhig fortschlief, und murmelte nur etwas vor sich hin. Sie blickte ihn von der Seite an, er hatte ein geröthetes Gesicht; sie errieth, daß ihn irgend ein heißes Getränk so geröthet hatte. Denn seine Haut färbte sich allemal, wenn er hastig trank. Die Brauen hatten sich über der Nase stark zusammengezogen, auch sah sie die blaue Ader auf seiner Stirn. Dieser Anblick machte ihr Furcht; doch sowie sie das fühlte, erwachte der alte Trotz, der die Furcht vor ihm nicht dulden wollte. Er hat es so gewollt! dachte

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:21:33Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:21:33Z)

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Zitationshilfe: Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilbrandt_ohlerich_1910/35>, abgerufen am 28.03.2024.