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Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die Arme auszustrecken, wenn er sie wieder an sein Herz drücken wollte. Sanftmüthig und geduldig wartend, wie ein Kind, blickte sie ihn an. Ohlerich suchte noch nach einem Wort, das er ihr auf dieses verliebte Bekenntniß erwidern wollte. Aber da ihm keines einfiel, das ihm die Hälfte von Dem zu sagen schien, was er zu sagen wünschte, zog er sie einfach auf seinen Schooß, hüllte sie ganz in seine beiden Arme und küßte sie stumm, mit einem Kuß ohne Ende, auf den Mund. -- --

Der Wirth trat, als es im Zimmer so still geworden war, nach einer tiefen Pause behutsam herein, lächelte und ging endlich auf das zärtliche Paar stillschweigend zu. Er hatte ein Billet in der Hand, das mit einer Oblate verklebt war. Indem er Johann Ohlerich sanft auf die Schulter klopfte, hielt er ihm das Billet vor die Augen; dann legte er es ihm auf die flache Hand, wie auf einen Teller.

Was soll ich damit? fragte Ohlerich.

Lesen! antwortete der Wirth. Ein hübscher junger Mensch hat es draußen bei mir in der Küche geschrieben. Ich sollte Sie die erste Viertelstunde lang nicht stören, hat er gesagt; aber nach Verlauf dieser Viertelstunde sollte ich hereingehen -- seine Hand klimperte unwillkürlich mit Julius' Trinkgeld in der Hosentasche -- und Ihnen das Stück Papier da in die Hand drücken.

Siehst du, es ist an mich und nicht an dich! sagte Ohlerich mit spaßhafter Heiterkeit zu seiner Frau, indem er die Aufschrift las. Er öffnete das Billet. Der Wirth stand noch auf demselben Fleck; er schickte ihn hinaus, das Mittagessen zu bringen, und hielt ihr das Blatt so von der Seite zu, daß sie mit hineinsehen konnte. Sie lasen stumm zu gleicher Zeit, Liesbeth mit den Lippen.

"Ich kann nicht mit euch zu Mittag essen, Ohlerich; es geht mir gegen die Natur; -- lebe wohl! Noch heute Nachmittag fahr' ich nach Kiel zurück, um von da meinem Vater zu schreiben, daß ich ihm nicht helfen kann, -- ich

die Arme auszustrecken, wenn er sie wieder an sein Herz drücken wollte. Sanftmüthig und geduldig wartend, wie ein Kind, blickte sie ihn an. Ohlerich suchte noch nach einem Wort, das er ihr auf dieses verliebte Bekenntniß erwidern wollte. Aber da ihm keines einfiel, das ihm die Hälfte von Dem zu sagen schien, was er zu sagen wünschte, zog er sie einfach auf seinen Schooß, hüllte sie ganz in seine beiden Arme und küßte sie stumm, mit einem Kuß ohne Ende, auf den Mund. — —

Der Wirth trat, als es im Zimmer so still geworden war, nach einer tiefen Pause behutsam herein, lächelte und ging endlich auf das zärtliche Paar stillschweigend zu. Er hatte ein Billet in der Hand, das mit einer Oblate verklebt war. Indem er Johann Ohlerich sanft auf die Schulter klopfte, hielt er ihm das Billet vor die Augen; dann legte er es ihm auf die flache Hand, wie auf einen Teller.

Was soll ich damit? fragte Ohlerich.

Lesen! antwortete der Wirth. Ein hübscher junger Mensch hat es draußen bei mir in der Küche geschrieben. Ich sollte Sie die erste Viertelstunde lang nicht stören, hat er gesagt; aber nach Verlauf dieser Viertelstunde sollte ich hereingehen — seine Hand klimperte unwillkürlich mit Julius' Trinkgeld in der Hosentasche — und Ihnen das Stück Papier da in die Hand drücken.

Siehst du, es ist an mich und nicht an dich! sagte Ohlerich mit spaßhafter Heiterkeit zu seiner Frau, indem er die Aufschrift las. Er öffnete das Billet. Der Wirth stand noch auf demselben Fleck; er schickte ihn hinaus, das Mittagessen zu bringen, und hielt ihr das Blatt so von der Seite zu, daß sie mit hineinsehen konnte. Sie lasen stumm zu gleicher Zeit, Liesbeth mit den Lippen.

„Ich kann nicht mit euch zu Mittag essen, Ohlerich; es geht mir gegen die Natur; — lebe wohl! Noch heute Nachmittag fahr' ich nach Kiel zurück, um von da meinem Vater zu schreiben, daß ich ihm nicht helfen kann, — ich

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[0065] die Arme auszustrecken, wenn er sie wieder an sein Herz drücken wollte. Sanftmüthig und geduldig wartend, wie ein Kind, blickte sie ihn an. Ohlerich suchte noch nach einem Wort, das er ihr auf dieses verliebte Bekenntniß erwidern wollte. Aber da ihm keines einfiel, das ihm die Hälfte von Dem zu sagen schien, was er zu sagen wünschte, zog er sie einfach auf seinen Schooß, hüllte sie ganz in seine beiden Arme und küßte sie stumm, mit einem Kuß ohne Ende, auf den Mund. — — Der Wirth trat, als es im Zimmer so still geworden war, nach einer tiefen Pause behutsam herein, lächelte und ging endlich auf das zärtliche Paar stillschweigend zu. Er hatte ein Billet in der Hand, das mit einer Oblate verklebt war. Indem er Johann Ohlerich sanft auf die Schulter klopfte, hielt er ihm das Billet vor die Augen; dann legte er es ihm auf die flache Hand, wie auf einen Teller. Was soll ich damit? fragte Ohlerich. Lesen! antwortete der Wirth. Ein hübscher junger Mensch hat es draußen bei mir in der Küche geschrieben. Ich sollte Sie die erste Viertelstunde lang nicht stören, hat er gesagt; aber nach Verlauf dieser Viertelstunde sollte ich hereingehen — seine Hand klimperte unwillkürlich mit Julius' Trinkgeld in der Hosentasche — und Ihnen das Stück Papier da in die Hand drücken. Siehst du, es ist an mich und nicht an dich! sagte Ohlerich mit spaßhafter Heiterkeit zu seiner Frau, indem er die Aufschrift las. Er öffnete das Billet. Der Wirth stand noch auf demselben Fleck; er schickte ihn hinaus, das Mittagessen zu bringen, und hielt ihr das Blatt so von der Seite zu, daß sie mit hineinsehen konnte. Sie lasen stumm zu gleicher Zeit, Liesbeth mit den Lippen. „Ich kann nicht mit euch zu Mittag essen, Ohlerich; es geht mir gegen die Natur; — lebe wohl! Noch heute Nachmittag fahr' ich nach Kiel zurück, um von da meinem Vater zu schreiben, daß ich ihm nicht helfen kann, — ich

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:21:33Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:21:33Z)

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Zitationshilfe: Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilbrandt_ohlerich_1910/65>, abgerufen am 25.04.2024.