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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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noch thun, wenn er das im Stande gewesen! Und hatte auch, wie sie es aus den halben Äußerungen Beider zu entnehmen glaubte, ihre Mutter die größte Sunde begangen, die ein Weib, dem Manne gegenüber, begehen kann; hatte dieser Mann darum das Recht, sie zu einem solchen Leben zu verdammen? Ein Leben, das nur ein langsames Sterben war! O lieber, viel lieber ein schneller Tod! Und Leonie, die den Werth der Freiheit kannte, weil sie ihrem inneren, zügellosen Wesen höchstes Bedürfnis war, schauderte, tief in sich zusammengeschmiegt.

Sie stand auf, ließ sich ankleiden, ging auf und ab und setzte sich wieder, bald hier, bald dort. Die Unruhe ihres Herzens ließ sich nicht beschwichtigen. Fräulein Bertold erzählte; die Kammerfrau weinte, die Heimat zu verlassen, und lächelte zwischen ihren Thränen, denn sie dachte doch auch an die mancherlei Zerstreuungen, die das Stadtleben bieten würde, und für welches sie durchaus nicht unempfindlich war. Dazwischen gingen die Vorbereitungen zur Abreise ruhig vor sich, und Leonies Gedanken schwärmten weit von Allem weg, was um sie her sich begab. Aus dem Wagen blickte sie noch einmal nach dem Waldsaum zurück, wo ein vor Kurzem so heißes Herz jetzt so ruhig schlief, so ruhig und so kalt! Sie warf sich in die Wagenecke zurück; ihr Vater saß ihr gegenüber und schien für nichts Sinn zu haben, als für Pferde, Wege, Wagen und alle Bedürfnisse einer raschen Fahrt.

Ein Jahr ist vorübergegangen, unter dessen Einfluss das frühreife Mädchen schnell zur vollendeten Jungfrau heran geblüht. Leonies Traum war erfüllt; sie war in die Welt eingetreten und an hohen und höchsten Orten vorgestellt worden, wo das Vorstellen gebräuchlich ist, und selbst ihr ehrgeiziges Herz war

noch thun, wenn er das im Stande gewesen! Und hatte auch, wie sie es aus den halben Äußerungen Beider zu entnehmen glaubte, ihre Mutter die größte Sunde begangen, die ein Weib, dem Manne gegenüber, begehen kann; hatte dieser Mann darum das Recht, sie zu einem solchen Leben zu verdammen? Ein Leben, das nur ein langsames Sterben war! O lieber, viel lieber ein schneller Tod! Und Leonie, die den Werth der Freiheit kannte, weil sie ihrem inneren, zügellosen Wesen höchstes Bedürfnis war, schauderte, tief in sich zusammengeschmiegt.

Sie stand auf, ließ sich ankleiden, ging auf und ab und setzte sich wieder, bald hier, bald dort. Die Unruhe ihres Herzens ließ sich nicht beschwichtigen. Fräulein Bertold erzählte; die Kammerfrau weinte, die Heimat zu verlassen, und lächelte zwischen ihren Thränen, denn sie dachte doch auch an die mancherlei Zerstreuungen, die das Stadtleben bieten würde, und für welches sie durchaus nicht unempfindlich war. Dazwischen gingen die Vorbereitungen zur Abreise ruhig vor sich, und Leonies Gedanken schwärmten weit von Allem weg, was um sie her sich begab. Aus dem Wagen blickte sie noch einmal nach dem Waldsaum zurück, wo ein vor Kurzem so heißes Herz jetzt so ruhig schlief, so ruhig und so kalt! Sie warf sich in die Wagenecke zurück; ihr Vater saß ihr gegenüber und schien für nichts Sinn zu haben, als für Pferde, Wege, Wagen und alle Bedürfnisse einer raschen Fahrt.

Ein Jahr ist vorübergegangen, unter dessen Einfluss das frühreife Mädchen schnell zur vollendeten Jungfrau heran geblüht. Leonies Traum war erfüllt; sie war in die Welt eingetreten und an hohen und höchsten Orten vorgestellt worden, wo das Vorstellen gebräuchlich ist, und selbst ihr ehrgeiziges Herz war

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/42>, abgerufen am 24.04.2024.