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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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so klug gewesen sei, daß er sie ihm habe abfragen pwo_032.002
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Auf welche Weise nun auch die einzelnen Völker ihre Dichtergabe von pwo_032.004
den Göttern herleiten, religiös-erhaben ist thatsächlich die älteste uns pwo_032.005
erreichbare Poesie.

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Aehnlich sehen wir in geschichtlicher Zeit neue Ansätze zu poetischen pwo_032.007
Entwicklungen vorherrschend von dem Religiös-Erhabenen ausgehen. pwo_032.008
Religiös ist überall der Ursprung des Dramas; im Zeitalter pwo_032.009
der Kreuzzüge, im Zeitalter der Reformation, mit den Gesängen des pwo_032.010
"Messias" verjüngt sich unsere Dichtung dreimal; Goethe und Schiller pwo_032.011
beginnen ihre schöpferische Thätigkeit mit einem "Joseph" und "Moses".

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Die Erhabenheit der ältesten Poesie.
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Jn durchgehender Uebereinstimmung betont die älteste uns erreichbare pwo_032.015
Poesie ihren erhabenen Charakter, ihr Ziel zu den Göttern pwo_032.016
zu erheben. Die Erhebung über das Jrdische, die Erhabenheit, tritt pwo_032.017
auf dieser ersten Stufe als Wesenheit der Poesie auf. Von einer pwo_032.018
Tendenz zur Schönheit ist dagegen noch nirgends die Rede.

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Schon auf Grund dieser Betrachtung müssen Zweifel aufkommen, pwo_032.020
ob die bloße ungeschichtliche Gegenüberstellung von Erhabenheit und pwo_032.021
Schönheit haltbar ist. "Zwei Genien sind es," führt Schillers Abhandlung pwo_032.022
"Ueber das Erhabene" aus, "die uns die Natur zu Begleitern pwo_032.023
durchs Leben gab. Der Eine, gesellig und hold, verkürzt pwo_032.024
uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die pwo_032.025
Fesseln der Notwendigkeit leicht und führt uns unter Freude und pwo_032.026
Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister pwo_032.027
handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der pwo_032.028
Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, pwo_032.029
denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn pwo_032.030
sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere pwo_032.031
hinzu,
ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns pwo_032.032
über die schwindligte Tiefe. Jn dem ersten dieser Genien erkennet pwo_032.033
man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen." pwo_032.034
Aehnlich faßt Wilhelm Wackernagel das Verhältnis in pwo_032.035
seiner Poetik: "Die Einbildungskraft kann den Verstand vorübergehend

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so klug gewesen sei, daß er sie ihm habe abfragen pwo_032.002
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Auf welche Weise nun auch die einzelnen Völker ihre Dichtergabe von pwo_032.004
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Tendenz zur Schönheit ist dagegen noch nirgends die Rede.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/46>, abgerufen am 25.04.2024.