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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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III. Die Traditionen des Heidenthums.
desselben in seinem größeren Theile von den heil. Schriften der
Juden und Christen behaupten zu dürfen, da die Annahme eines
Entlehntseins aus diesen in den meisten Fällen an weit größeren
Schwierigkeiten leidet, als die Voraussetzung des Gegentheils.

Alte Sagen der Chinesen reden von einem Urzustande der
"großen Einigkeit," wo der Mensch noch mitten unter den Thieren
wohnte, auf einer Erde, die Alles von selbst wachsen, alle Früchte
von selbst dem Boden entkeimen ließ; wo man "die Tugend übte
ohne Hilfe der Wissenschaft und in Unschuld lebte, ohne die Rei-
zungen des Fleisches zu fühlen". Erst "die unmäßige Begier nach
Wissenschaft hat (nach Hoai-man-tse) den Menschen in's Verderben
gestürzt". "Nachdem der Mensch verderbt worden", sagt Lo-pi,
"führten die wilden Thiere, die Vögel, die Jnsecten und Schlangen
Krieg mit ihm; kaum hatte er die Wissenschaft erlangt, als alle
Geschöpfe ihm feind wurden; in wenigen Stunden veränderte sich
der Himmel, und der Mensch war nicht mehr derselbe". Eine andre
Version der Sage läßt Fo-hi (Pao-hi), den ersten Menschen, durch
einen der Tiefe entstiegenen Drachen in die "Wissenschaft des Jn
und Yang," d. h. ins Geheimniß der Männlichkeit und Weiblichkeit
eingeweiht und so zu Fall gebracht werden1). Die Tradition über
die von diesem Urmenschen Fo-hi oder Pao-hi bis auf Jao, den
chinesischen Noah oder Sintfluth-Ableiter, sich gefolgten Urkaiser oder
Heroen erinnert theils an die sethitische Patriarchenreihe in Gen. 5,
theils und mehr noch an die kainitische bis auf Lamech; dieß be-
sonders durch die mancherlei Fortschritte in Erfindungen und Künste,

1) Wir folgen hier, natürlich mit aller Reserve, der Darstellung H. Lüken's
(Die Traditionen des Menschengeschlechts etc., 2. Aufl., 1869) S. 96 ff., der
sich seinerseits hauptsächlich auf T. I der Memoires concernant les Chinois
stützt. -- Wir halten das Lükensche Werk sammt manchen ähnlichen Versuchen
(z. B. Stiefelhagen, Theologie des Heidenthums, 1858; E. L. Fischer,
"Heidenthum und Offenbarung" (s. u.), Lipschütz, De communi hum. gen.
origine,
1864, etc., für daukenswerthe Vorarbeiten zur Apologetik, verlangen aber
natürlich strenge Prüfung ihrer Angaben am Lichte der beständig fortschreitenden
religionsgeschichtlichen Forschung.

III. Die Traditionen des Heidenthums.
deſſelben in ſeinem größeren Theile von den heil. Schriften der
Juden und Chriſten behaupten zu dürfen, da die Annahme eines
Entlehntſeins aus dieſen in den meiſten Fällen an weit größeren
Schwierigkeiten leidet, als die Vorausſetzung des Gegentheils.

Alte Sagen der Chineſen reden von einem Urzuſtande der
„großen Einigkeit,‟ wo der Menſch noch mitten unter den Thieren
wohnte, auf einer Erde, die Alles von ſelbſt wachſen, alle Früchte
von ſelbſt dem Boden entkeimen ließ; wo man „die Tugend übte
ohne Hilfe der Wiſſenſchaft und in Unſchuld lebte, ohne die Rei-
zungen des Fleiſches zu fühlen‟. Erſt „die unmäßige Begier nach
Wiſſenſchaft hat (nach Hoai-man-tſe) den Menſchen in’s Verderben
geſtürzt‟. „Nachdem der Menſch verderbt worden‟, ſagt Lo-pi,
„führten die wilden Thiere, die Vögel, die Jnſecten und Schlangen
Krieg mit ihm; kaum hatte er die Wiſſenſchaft erlangt, als alle
Geſchöpfe ihm feind wurden; in wenigen Stunden veränderte ſich
der Himmel, und der Menſch war nicht mehr derſelbe‟. Eine andre
Verſion der Sage läßt Fo-hi (Pao-hi), den erſten Menſchen, durch
einen der Tiefe entſtiegenen Drachen in die „Wiſſenſchaft des Jn
und Yang,‟ d. h. ins Geheimniß der Männlichkeit und Weiblichkeit
eingeweiht und ſo zu Fall gebracht werden1). Die Tradition über
die von dieſem Urmenſchen Fo-hi oder Pao-hi bis auf Jao, den
chineſiſchen Noah oder Sintfluth-Ableiter, ſich gefolgten Urkaiſer oder
Heroen erinnert theils an die ſethitiſche Patriarchenreihe in Gen. 5,
theils und mehr noch an die kainitiſche bis auf Lamech; dieß be-
ſonders durch die mancherlei Fortſchritte in Erfindungen und Künſte,

1) Wir folgen hier, natürlich mit aller Reſerve, der Darſtellung H. Lüken’s
(Die Traditionen des Menſchengeſchlechts ꝛc., 2. Aufl., 1869) S. 96 ff., der
ſich ſeinerſeits hauptſächlich auf T. I der Mémoires concernant les Chinois
ſtützt. — Wir halten das Lükenſche Werk ſammt manchen ähnlichen Verſuchen
(z. B. Stiefelhagen, Theologie des Heidenthums, 1858; E. L. Fiſcher,
„Heidenthum und Offenbarung‟ (ſ. u.), Lipſchütz, De communi hum. gen.
origine,
1864, ꝛc., für daukenswerthe Vorarbeiten zur Apologetik, verlangen aber
natürlich ſtrenge Prüfung ihrer Angaben am Lichte der beſtändig fortſchreitenden
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[85/0095] III. Die Traditionen des Heidenthums. deſſelben in ſeinem größeren Theile von den heil. Schriften der Juden und Chriſten behaupten zu dürfen, da die Annahme eines Entlehntſeins aus dieſen in den meiſten Fällen an weit größeren Schwierigkeiten leidet, als die Vorausſetzung des Gegentheils. Alte Sagen der Chineſen reden von einem Urzuſtande der „großen Einigkeit,‟ wo der Menſch noch mitten unter den Thieren wohnte, auf einer Erde, die Alles von ſelbſt wachſen, alle Früchte von ſelbſt dem Boden entkeimen ließ; wo man „die Tugend übte ohne Hilfe der Wiſſenſchaft und in Unſchuld lebte, ohne die Rei- zungen des Fleiſches zu fühlen‟. Erſt „die unmäßige Begier nach Wiſſenſchaft hat (nach Hoai-man-tſe) den Menſchen in’s Verderben geſtürzt‟. „Nachdem der Menſch verderbt worden‟, ſagt Lo-pi, „führten die wilden Thiere, die Vögel, die Jnſecten und Schlangen Krieg mit ihm; kaum hatte er die Wiſſenſchaft erlangt, als alle Geſchöpfe ihm feind wurden; in wenigen Stunden veränderte ſich der Himmel, und der Menſch war nicht mehr derſelbe‟. Eine andre Verſion der Sage läßt Fo-hi (Pao-hi), den erſten Menſchen, durch einen der Tiefe entſtiegenen Drachen in die „Wiſſenſchaft des Jn und Yang,‟ d. h. ins Geheimniß der Männlichkeit und Weiblichkeit eingeweiht und ſo zu Fall gebracht werden 1). Die Tradition über die von dieſem Urmenſchen Fo-hi oder Pao-hi bis auf Jao, den chineſiſchen Noah oder Sintfluth-Ableiter, ſich gefolgten Urkaiſer oder Heroen erinnert theils an die ſethitiſche Patriarchenreihe in Gen. 5, theils und mehr noch an die kainitiſche bis auf Lamech; dieß be- ſonders durch die mancherlei Fortſchritte in Erfindungen und Künſte, 1) Wir folgen hier, natürlich mit aller Reſerve, der Darſtellung H. Lüken’s (Die Traditionen des Menſchengeſchlechts ꝛc., 2. Aufl., 1869) S. 96 ff., der ſich ſeinerſeits hauptſächlich auf T. I der Mémoires concernant les Chinois ſtützt. — Wir halten das Lükenſche Werk ſammt manchen ähnlichen Verſuchen (z. B. Stiefelhagen, Theologie des Heidenthums, 1858; E. L. Fiſcher, „Heidenthum und Offenbarung‟ (ſ. u.), Lipſchütz, De communi hum. gen. origine, 1864, ꝛc., für daukenswerthe Vorarbeiten zur Apologetik, verlangen aber natürlich ſtrenge Prüfung ihrer Angaben am Lichte der beſtändig fortſchreitenden religionsgeſchichtlichen Forſchung.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/95>, abgerufen am 29.03.2024.