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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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der historischen Menschheit nichts gemein, so pbo_020.002
wenig die Gassenhauer der modernen Großstädte etwas mit pbo_020.003
dem Volksliede gesunder, tüchtiger, einfacher Geschlechter zu pbo_020.004
thun haben. Hier ist überall Entartung, nicht Natur.

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Die Naturdichtung, wie jede Naturkunst, charakterisiert pbo_020.006
im Gegenteil die Richtung auf das Erhabenste und Reinste, pbo_020.007
was der Menschengeist zu fassen vermag. Die Urpoesie deckt pbo_020.008
sich mit dem Begriff der Urreligion. Homer hat den Griechen pbo_020.009
ihre Götter gegeben, und dem Dichter des Altertums blieb pbo_020.010
bis ans Ende der Name des Sehers, des Propheten (vates). pbo_020.011
Auch die neuere Naturpoesie offenbart im Volkslied*), im pbo_020.012
Märchen, im Spruch bei aller Schlichtheit die tiefsten und pbo_020.013
weitesten Bezüge des Menschengeistes. Das giebt diesen Gebilden pbo_020.014
ihren durch nichts zu ersetzenden Zauber, die ursprüngliche, pbo_020.015
noch unverfälschte, unentweihte Frische des Empfindens.

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Selbst in der gegenwärtigen, auf die Aufregungssucht pbo_020.017
und Banalität des Pöbels spekulierenden Unterhaltungslitteratur pbo_020.018
der Menge (früher Ritter- und Räuber-, jetzt meist pbo_020.019
Kriminalgeschichten) zeigt sich höchst auffällig ein falsches, pbo_020.020
übertriebenes Bedürfnis, zu idealisieren, die Tugend riesengroß, pbo_020.021
die Unschuld engelrein, die Bosheit teuflisch geschildert zu pbo_020.022
sehen (Schillers Volksstücke: Die Räuber, Kabale und Liebe). pbo_020.023
Aehnliches läßt sich von dem sittlich unanstößigen, aber künstlerisch pbo_020.024
bedeutungslosen Unterhaltungsstoff der mittleren Stände pbo_020.025
bemerken (Familienstücke, "Gartenlauberomane"). Die Frivolität pbo_020.026
des Bildungspöbels überkultivierter Zeiten mit Schaustellungen pbo_020.027
seiner geistverlassenen Trivialität, cynischen Roheit pbo_020.028
und skrupellosen Gemeinheit zu ködern, kann wohl Naturalismus pbo_020.029
heißen (im Sinne eines Jrrtums der künstlerischen pbo_020.030
Naturanschauung vgl. oben), niemals aber Natur.

*) pbo_020.031
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Das neuere Volkslied.

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was der Menschengeist zu fassen vermag. Die Urpoesie deckt pbo_020.008
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bis ans Ende der Name des Sehers, des Propheten (vates). pbo_020.011
Auch die neuere Naturpoesie offenbart im Volkslied*), im pbo_020.012
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weitesten Bezüge des Menschengeistes. Das giebt diesen Gebilden pbo_020.014
ihren durch nichts zu ersetzenden Zauber, die ursprüngliche, pbo_020.015
noch unverfälschte, unentweihte Frische des Empfindens.

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Selbst in der gegenwärtigen, auf die Aufregungssucht pbo_020.017
und Banalität des Pöbels spekulierenden Unterhaltungslitteratur pbo_020.018
der Menge (früher Ritter- und Räuber-, jetzt meist pbo_020.019
Kriminalgeschichten) zeigt sich höchst auffällig ein falsches, pbo_020.020
übertriebenes Bedürfnis, zu idealisieren, die Tugend riesengroß, pbo_020.021
die Unschuld engelrein, die Bosheit teuflisch geschildert zu pbo_020.022
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Aehnliches läßt sich von dem sittlich unanstößigen, aber künstlerisch pbo_020.024
bedeutungslosen Unterhaltungsstoff der mittleren Stände pbo_020.025
bemerken (Familienstücke, „Gartenlauberomane“). Die Frivolität pbo_020.026
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seiner geistverlassenen Trivialität, cynischen Roheit pbo_020.028
und skrupellosen Gemeinheit zu ködern, kann wohl Naturalismus pbo_020.029
heißen (im Sinne eines Jrrtums der künstlerischen pbo_020.030
Naturanschauung vgl. oben), niemals aber Natur.

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Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Das neuere Volkslied.
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/24>, abgerufen am 19.04.2024.