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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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der Entwickelung ein, und jetzt erst gilt es, daß es nicht unbewußt
geschähe, sondern mit dem vollen Bewußtsein der Verantwortlichkeit.

Die erste Pflicht jeder Frau ist zunächst die, sich selbst zu bilden
und aufzuklären. Das ist keine leichte Aufgabe für die, denen es an
Vorbildung fehlt, denen Zeitungen, Bücher nicht zur Verfügung
stehen, die weder Zeit noch Geld haben, sich all das zu verschaffen,
denen die mühselige Tagesarbeit Frische und Empfänglichkeit raubt.
Es giebt aber fast allerwärts Versammlungen, die nichts oder nur
wenig kosten, und wo Vorträge der verschiedensten Art den Hörern
das zuführen, was ihnen fehlt. Die Zeit dafür müssen die Frauen
finden, auch wenn einmal eine oder die andere überflüssige Klatsch-
stunde mit den Nachbarinnen, ein Tanzvergnügen oder dergleichen
geopfert wird, oder der Mann zu Hause bleibt und die Kinder hütet.
Auch das ist für den Mann eine politische Pflicht: denn er trägt die
Hauptverantwortung dafür, was für eine Erzieherin die Mutter
seinen Kindern wird! Jn manchen Städten giebt es auch besondere
Bildungsvereine, denen sich Frauen anschließen können, wenn es an
anderen Gelegenheiten fehlt, um ihr Wissen zu bereichern und ihnen
zugleich eine Aussprache mit Gleichgesinnten zu ermöglichen. Das
wichtigste Mittel aber, um zu alledem zu gelangen, ist die gewerk-
schaftliche Organisation. Alles, was die Arbeiterin zu wissen ver-
pflichtet ist, lernt sie am Besten im Kreise ihrer Berufskollegen.
Hier vermag sie auch am leichtesten ihrer Schüchternheit Herr zu
werden, hier kann sie sich ohne Scheu im Reden üben, hier fühlt sie
sich zum ersten Male als Glied eines Ganzen, als Kämpfer in Reih'
und Glied. Ganz abgesehen davon also, daß die gewerkschaftliche
Organisation für sich allein große Aufgaben zu erfüllen hat - auch
im Hinblick auf ihre politischen Pflichten darf keine Arbeiterin sich
von ihr ausschließen.

Bietet ihr die Gesetzgebung die Möglichkeit, wie in einzelnen
Staaten Deutschlands, auch den politischen Vereinen beizutreten, so
muß sie es thun, sobald sie glaubt, eine eigene politische Ueberzeugung
zu haben. Sie darf sich weder von dem Uebelwollen der Männer,
- das giebt es leider noch öfters! - noch durch Gründe der Spar-
samkeit davon abhalten lassen. Die paar Groschen dafür gehören
mit zu den Opfern, die sie zu bringen hat: ein buntes Band, ein Hut
weniger, ist das zu viel im Hinblick auf das große Ziel, das sie mit
erreichen hilft?

Und weiter: unter dem Schutz unaufgeklärter Frauen gedeihen
jene Hintertreppenromane, die die Phantasie vergiften und den Geist
von ernsten Jnteressen ablenken, verbreiten sich jene Zeitungen, die
ihre Leser mit Räuber- und Klatschgeschichten füttern, und sie all-
mälig zu urtheilslosen Mitläufern kapitalistischer Politik machen.
Sache der Frauen ist es, hier gründlich Wandel zu schaffen; keine
aufgeklärte Arbeiterin sollte solche Lektüre in ihrer Umgebung dulden:
eine anständige, gesinnungstüchtige Parteizeitung, ein Gewerkschafts-

der Entwickelung ein, und jetzt erst gilt es, daß es nicht unbewußt
geschähe, sondern mit dem vollen Bewußtsein der Verantwortlichkeit.

Die erste Pflicht jeder Frau ist zunächst die, sich selbst zu bilden
und aufzuklären. Das ist keine leichte Aufgabe für die, denen es an
Vorbildung fehlt, denen Zeitungen, Bücher nicht zur Verfügung
stehen, die weder Zeit noch Geld haben, sich all das zu verschaffen,
denen die mühselige Tagesarbeit Frische und Empfänglichkeit raubt.
Es giebt aber fast allerwärts Versammlungen, die nichts oder nur
wenig kosten, und wo Vorträge der verschiedensten Art den Hörern
das zuführen, was ihnen fehlt. Die Zeit dafür müssen die Frauen
finden, auch wenn einmal eine oder die andere überflüssige Klatsch-
stunde mit den Nachbarinnen, ein Tanzvergnügen oder dergleichen
geopfert wird, oder der Mann zu Hause bleibt und die Kinder hütet.
Auch das ist für den Mann eine politische Pflicht: denn er trägt die
Hauptverantwortung dafür, was für eine Erzieherin die Mutter
seinen Kindern wird! Jn manchen Städten giebt es auch besondere
Bildungsvereine, denen sich Frauen anschließen können, wenn es an
anderen Gelegenheiten fehlt, um ihr Wissen zu bereichern und ihnen
zugleich eine Aussprache mit Gleichgesinnten zu ermöglichen. Das
wichtigste Mittel aber, um zu alledem zu gelangen, ist die gewerk-
schaftliche Organisation. Alles, was die Arbeiterin zu wissen ver-
pflichtet ist, lernt sie am Besten im Kreise ihrer Berufskollegen.
Hier vermag sie auch am leichtesten ihrer Schüchternheit Herr zu
werden, hier kann sie sich ohne Scheu im Reden üben, hier fühlt sie
sich zum ersten Male als Glied eines Ganzen, als Kämpfer in Reih’
und Glied. Ganz abgesehen davon also, daß die gewerkschaftliche
Organisation für sich allein große Aufgaben zu erfüllen hat – auch
im Hinblick auf ihre politischen Pflichten darf keine Arbeiterin sich
von ihr ausschließen.

Bietet ihr die Gesetzgebung die Möglichkeit, wie in einzelnen
Staaten Deutschlands, auch den politischen Vereinen beizutreten, so
muß sie es thun, sobald sie glaubt, eine eigene politische Ueberzeugung
zu haben. Sie darf sich weder von dem Uebelwollen der Männer,
– das giebt es leider noch öfters! – noch durch Gründe der Spar-
samkeit davon abhalten lassen. Die paar Groschen dafür gehören
mit zu den Opfern, die sie zu bringen hat: ein buntes Band, ein Hut
weniger, ist das zu viel im Hinblick auf das große Ziel, das sie mit
erreichen hilft?

Und weiter: unter dem Schutz unaufgeklärter Frauen gedeihen
jene Hintertreppenromane, die die Phantasie vergiften und den Geist
von ernsten Jnteressen ablenken, verbreiten sich jene Zeitungen, die
ihre Leser mit Räuber- und Klatschgeschichten füttern, und sie all-
mälig zu urtheilslosen Mitläufern kapitalistischer Politik machen.
Sache der Frauen ist es, hier gründlich Wandel zu schaffen; keine
aufgeklärte Arbeiterin sollte solche Lektüre in ihrer Umgebung dulden:
eine anständige, gesinnungstüchtige Parteizeitung, ein Gewerkschafts-

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[43/0042] der Entwickelung ein, und jetzt erst gilt es, daß es nicht unbewußt geschähe, sondern mit dem vollen Bewußtsein der Verantwortlichkeit. Die erste Pflicht jeder Frau ist zunächst die, sich selbst zu bilden und aufzuklären. Das ist keine leichte Aufgabe für die, denen es an Vorbildung fehlt, denen Zeitungen, Bücher nicht zur Verfügung stehen, die weder Zeit noch Geld haben, sich all das zu verschaffen, denen die mühselige Tagesarbeit Frische und Empfänglichkeit raubt. Es giebt aber fast allerwärts Versammlungen, die nichts oder nur wenig kosten, und wo Vorträge der verschiedensten Art den Hörern das zuführen, was ihnen fehlt. Die Zeit dafür müssen die Frauen finden, auch wenn einmal eine oder die andere überflüssige Klatsch- stunde mit den Nachbarinnen, ein Tanzvergnügen oder dergleichen geopfert wird, oder der Mann zu Hause bleibt und die Kinder hütet. Auch das ist für den Mann eine politische Pflicht: denn er trägt die Hauptverantwortung dafür, was für eine Erzieherin die Mutter seinen Kindern wird! Jn manchen Städten giebt es auch besondere Bildungsvereine, denen sich Frauen anschließen können, wenn es an anderen Gelegenheiten fehlt, um ihr Wissen zu bereichern und ihnen zugleich eine Aussprache mit Gleichgesinnten zu ermöglichen. Das wichtigste Mittel aber, um zu alledem zu gelangen, ist die gewerk- schaftliche Organisation. Alles, was die Arbeiterin zu wissen ver- pflichtet ist, lernt sie am Besten im Kreise ihrer Berufskollegen. Hier vermag sie auch am leichtesten ihrer Schüchternheit Herr zu werden, hier kann sie sich ohne Scheu im Reden üben, hier fühlt sie sich zum ersten Male als Glied eines Ganzen, als Kämpfer in Reih’ und Glied. Ganz abgesehen davon also, daß die gewerkschaftliche Organisation für sich allein große Aufgaben zu erfüllen hat – auch im Hinblick auf ihre politischen Pflichten darf keine Arbeiterin sich von ihr ausschließen. Bietet ihr die Gesetzgebung die Möglichkeit, wie in einzelnen Staaten Deutschlands, auch den politischen Vereinen beizutreten, so muß sie es thun, sobald sie glaubt, eine eigene politische Ueberzeugung zu haben. Sie darf sich weder von dem Uebelwollen der Männer, – das giebt es leider noch öfters! – noch durch Gründe der Spar- samkeit davon abhalten lassen. Die paar Groschen dafür gehören mit zu den Opfern, die sie zu bringen hat: ein buntes Band, ein Hut weniger, ist das zu viel im Hinblick auf das große Ziel, das sie mit erreichen hilft? Und weiter: unter dem Schutz unaufgeklärter Frauen gedeihen jene Hintertreppenromane, die die Phantasie vergiften und den Geist von ernsten Jnteressen ablenken, verbreiten sich jene Zeitungen, die ihre Leser mit Räuber- und Klatschgeschichten füttern, und sie all- mälig zu urtheilslosen Mitläufern kapitalistischer Politik machen. Sache der Frauen ist es, hier gründlich Wandel zu schaffen; keine aufgeklärte Arbeiterin sollte solche Lektüre in ihrer Umgebung dulden: eine anständige, gesinnungstüchtige Parteizeitung, ein Gewerkschafts-

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Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/42>, abgerufen am 19.04.2024.